Untrennbar miteinander verbunden ist man auch in der Flüchtlingsthematik: 3,9 Millionen Syrer hat die Türkei aufgenommen, der UNO zufolge beherbergt kein anderes Land mehr Flüchtlinge. Für ihre Versorgung zahlt die EU Milliarden, im Gegenzug lässt die Türkei die Geflüchteten nicht nach Europa weiterziehen. Schon im Wahlkampf hatte Erdoğan eine Neuverhandlung des Deals gefordert: Brüssel soll mehr zahlen.
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Kurswechsel mit Syrien und im Nahen Osten
Die hohe Zahl an Flüchtlingen beschäftigt die Türkei auch innenpolitisch. Erdoğan pocht auf freiwillige Rückführungen, muss sich dafür aber mit dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad zusammensetzen, den er vor einigen Jahren noch erbittert bekämpft hat. Çiçek zufolge wird Erdoğan auch durch die Wiederannäherung der Golfstaaten an Syrien zu einem Kurswechsel gezwungen.
Mit Ägypten bahnt sich ebenfalls ein Richtungswechsel an: Die beiden Länder wollen nach zehn Jahren ohne diplomatischen Beziehungen – die Türkei hatte 2013 die Absetzung des islamistischen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi als "Militärputsch" bezeichnet – wieder Botschafter in das jeweils andere Land entsenden.
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F-16-Jets für ein Ja zu Schwedens NATO-Beitritt
Auch in die Beziehung zwischen Washington und Ankara – Çiçek bezeichnet sie aktuell als "kleine Eiszeit" – könnte Bewegung kommen: Nämlich dann, wenn Ankara seine Blockade zum NATO-Beitritt Schwedens aufgibt. Die hatte Erdoğan vor allem im Wahlkampf genutzt, um sein Narrativ als Beschützer der Türkei vor der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu verstärken. Ankara wirft Schweden vor, die Terrororganisation zu unterstützen.
Mittlerweile hat Stockholm ein neues Terrorismusgesetz verabschiedet. US-Präsident Joe Biden kam in seinen Glückwünschen auf Ankaras Wunsch nach amerikanischen F-16-Kampfjets zu sprechen, die im Tausch gegen ein Ende der Blockade verhandelt werden könnten. "Die Türkei wird dem NATO-Beitritt zustimmen", prognostiziert auch Çiçek. Ob sich das vor dem NATO-Treffen Mitte Juli ausgeht, ist aber unklar.
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Schulterschluss mit Putin
An seinen guten Beziehungen zu Wladimir Putin wird Erdoğan weiterhin festhalten: "Erdoğan bleibt situationselastisch zwischen Ost und West", so Çiçek. Die Türkei wird sich weiterhin nicht an westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligen. Für das wirtschaftliche Schlupfloch, das man russischen Firmen damit gewährt, hat Moskau in der Vergangenheit Zahlungen für Gaslieferungen aufgeschoben, mit Krediten ausgeholfen und das erste Atomkraftwerk in der Türkei gebaut.
Nur die Wirtschaft könnte ihm dazwischen kreuzen
"Die Türkei wird weiter versuchen, auf allen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen", resümiert der Politologe. Auch, weil Erdoğan eine expansive, aktive Außenpolitik brauche, um seine autoritäre Innenpolitik – Beobachter befürchten, dass die Einschränkung von Meinungsfreiheit und Grundrechten zunehmen dürfte – zu rechtfertigen. Schwächen könnte ihn nur die wirtschaftliche Situation im eigenen Land – die Lira hat am Dienstag ein Rekordtief gegenüber dem Euro verzeichnet. Die Türkei ist auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Das dürfte Erdoğans Handlungsspielraum dann doch etwas einschränken.
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