Mit Beginn des Krieges in der Ukraine ist die strategische und geopolitische Macht der Türkei noch einmal gewachsen. Als Staatschef eines NATO-Mitglieds mit guten Verbindungen nach Kiew und Moskau – mit beiden Ländern pflegt die Türkei Handel – inszeniert sich Erdoğan als potenzieller Friedensstifter und Vermittler und profitiert von seiner Sonderrolle.
Krieg spielt Erdoğan in die Karten
Den Westen setzt er mit seinem Veto gegen den Beitritt Schwedens unter Druck, erhandelt sich dadurch attraktive Gegenleistungen und präsentiert sich im aktuellen Wahlkampf als Beschützer der Nation. Bei den Sanktionen des Westens gegen Moskau hat sich Erdoğan enthalten. Stattdessen entwickelte sich Russland 2022 zum größten Handelspartner der Türkei; die wiederum wurde zur Hintertür für russische Unternehmen, die den Sanktionen entgehen wollen.
Machtpolitische Interessen verfolgt Erdoğan aber nicht nur in Europa und Asien. Das neue Selbstbewusstsein und das Loslösen Afrikas von Verflechtungen mit den Ex-Kolonialmächten spielen ihm auch hier in die Karten. Die Türkei leistet Entwicklungshilfe, liefert "europäische Qualität zu asiatischen Preisen", wie es oft heißt, ohne ethische oder politische Bedingungen. Die türkischen Kampf- und Aufklärungsdrohnen vom Typ Bayraktar TB2 sind ein Verkaufsschlager, genauso wie türkische TV-Dramen: Die Türkei ist mittlerweile zweitgrößter Exporteur von TV-Serien, die vor allem in Nordafrika beliebt sind.
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Gefahr droht nur von innen
Erdoğan, der sich nach seinem gesundheitlichen Ausfall am Samstag in Izmir wieder öffentlich zeigte, hat die Macht der Türkei global gefestigt. Die größte Gefahr eines Verlustes droht aktuell wohl nur im eigenen Land: eine Niederlage bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai. Denn die innenpolitischen Probleme – Korruption, schwache Wirtschaft, hohe Inflation (2022 bis zu 85 Prozent) – sind mittlerweile zu groß, als dass sie sich länger hinter einer erfolgreichen Außenpolitik verstecken lassen.
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Wo Erdoğan seine Macht ausübt
NATO-Blockierer und Nachbarschaftsstreit
- Grund für das türkische Veto gegen den schwedischen NATO-Beitritt: Schweden nehme Menschen auf, die Ankara als Terroristen einstuft – etwa Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans PKK (die in der Türkei, der EU und den USA verboten ist), aber auch kritische Journalisten. Erdoğan inszeniert sich damit im aktuellen Wahlkampf als Beschützer der Nation und Machtfigur: Schweden hat auf Wunsch der Türkei die Anti-Terror-Gesetze verschärft, ein Waffenembargo gegen Ankara aufgehoben und prüft Auslieferungen. Neben der Türkei ist nur Ungarn gegen den NATO-Beitritt, alle anderen der 31 Mitgliedsstaaten sind dafür.
- Mit Griechenland liegt die Türkei seit Ausrufung der Republik im Clinch. Erdoğan reklamiert die griechischen Ägäis-Inseln für die Türkei. In einem Wahlkampf-Video zeigte er sich vor einer Karte, die die Inseln als Teil der Türkei zeigten. Seit 1974 besetzt die Türkei Nordzypern, beansprucht den griechischen Mittelmeerraum für sich. Immer wieder kommt es zu Militärübungen. Im Konflikt geht es auch um die Erdgasvorkommen im Mittelmeer.
Attraktiver Partner Afrikas und eingeklemmt zwischen Ost und West
- Vor Erdoğan gab es 12 türkische Botschaften in Afrika, heute sind es 46. Afrika kauft türkische Rüstungsgüter; nur die Chinesen wickeln mehr Bauprojekte ab als die Türken. Turkish Airlines ist die am stärksten vertretene Fluglinie. Die Türkei finanziert Schulen, Stipendien in der Türkei und Türkischkurse. Türkische Seifenopern und staatliche TV-Sender sind besonders in Nordafrika beliebt. Der wichtigste Partner der Türkei in Afrika: Somalia. Hier verdient die Türkei am Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg – und sichert sich noch kaum genutzte Erz- und Erdölvorkommen.
- Seit 2005 sind die EU-Beitrittsgespräche eingefroren, zu groß die Differenzen bei Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und dem Zypern-Konflikt. Ankara übt mit Flüchtlingen regelmäßig Druck auf Brüssel aus, bekommt dafür Milliarden und (bisher nur leere) Versprechen zur Visafreiheit.
Für das sanktionierte Moskau ist die Türkei ein wichtiger Finanzhafen geworden: Ankara hat keine Sanktionen verhängt, tausende Russen sind seit Kriegsbeginn in die Türkei ausgewandert. Russische Firmen haben sich angesiedelt, um den Sanktionen zu entgehen. Vergangene Woche haben Erdoğan und Putin via Liveschaltung das erste Atomkraftwerk Akkuyu in der Südtürkei beworben, errichtet wurde es vom russischen Staatskonzern Rosatom.
Meermacht und Kriegspartei
- Erdoğan kontrolliert mit dem Bosporus und den Dardanellen den Zugang zum Schwarzen Meer – und damit die Nutzung der Gewässer durch die anderen Schwarzmeer-Länder Bulgarien, Rumänien, Ukraine, Russland und Georgien. Sichtbar wurde das beim Getreideabkommen zwischen Kiew und Moskau, das die Türkei vermittelt hat. Im Krieg gibt sich Ankara neutral, liefert Waffen an die Ukraine und bezieht gleichzeitig weiter Gas aus Russland
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