Die einen befürchten, dass Präsident Erdoğan nun noch konservativer und autoritärer regieren könnte. Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten, gut die Hälfte der Bevölkerung ist gegen Erdoğan, nennt ihn einen "Diktator". Erdoğan könnte nun noch stärker auf Repression und Einschüchterung zurückgreifen, um seine Gegner ruhig zu stellen; starken Oppositionellen, wie schon dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, aus noch willkürlicheren Gründen ("Präsidentenbeleidigung") mit einem Politikverbot drohen oder gar festnehmen lassen.
Angst vor islamistischen Einflüssen
Vor allem Frauen und säkulare Türkinnen und Türken fürchten die Mitsprache der islamistischen Kleinparteien, die die AKP nun im Parlament unterstützen: die Yeniden Refah Partisi und die Hüda Par. Sie plädierten im Wahlkampf für eine Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit und die Kürzung von Unterhaltszahlungen an geschiedene Frauen. Ihnen zufolge sollten Frauen nur jene Tätigkeiten verrichten, die ihrer "Natur" entsprächen, verstehen darunter Berufe im Bildungs- und Gesundheitswesen.
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Andere wiederum meinen, Erdoğan könne es sich nicht leisten, noch autoritärer zu regieren: Zu misslich sei die wirtschaftliche Lage mit der höchsten Inflationsrate und Arbeitslosigkeit seit Jahren und der Lira im freien Fall, zu groß die benötigte Hilfe. Die finanzielle Unterstützung, die Erdoğan zuletzt von den Golfstaaten erhalten hat, reiche bei Weitem nicht. Die EU ist nach wie vor der wichtigste Handelspartner des Landes und wichtigste Investitionsquelle, stellt aber Bedingungen für die Zusammenarbeit.
Selbiges gilt für die Bewältigung der Flüchtlingsthematik, die vor allem in den Wochen vor der Stichwahl sowohl von Opposition als auch von der Regierung thematisiert wurde. Laut UN beherbergt kein Land auf der Welt mehr Flüchtlinge als die Türkei, die meisten aus Syrien. Zur Rücksendung dieser müsste sich Erdoğan aber auch mit dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad an einen Tisch setzen, den er bis vorKurzem noch erbittert bekämpft hat.
Pragmatiker für den Machterhalt?
"Erdoğan ist trotz seines Sieges kein Gewinner, die Stichwahl hat ihn geschwächt", so der renommierte Politologe Hüseyin Bağci zum KURIER. Die Hälfte der 85 Millionen Menschen, die gegen ihn sind, werde Erdoğan wohl kaum ruhig stellen können, und auch aus wirtschaftlichen Gründen versuchen müssen, die nun enttäuschten und zum Abwandern bereiten Jungen im Land zu halten, so die Annahme einiger Beobachter.
Vertreter dieser Meinung sehen in Erdoğan einen Pragmatiker, der für den eigenen Machterhalt auch mal einen Richtungswechsel einschlägt. Kurz vor der Stichwahl hat er mit staatsmännischen und leicht versöhnlichen Tönen aufhorchen lassen, sprach davon, "niemanden verlieren" zu wollen. Noch in der Nacht wiederholte er sein Versprechen – dass er künftig jedoch eine derartige Kehrwende in seiner islamisch-konservativen Politik einlegt, "hält zumindest die Hälfte der Bevölkerung für sehr unwahrscheinlich", so Bağci.
Erdoğans erster großer internationaler Auftritt nach der Wahl dürfte beim NATO-Gipfel im Juli stattfinden, bei dem auch Schwedens Beitritt zum Verteidigungsbündnis wieder einmal thematisiert werden wird. Kurz vor der Wahl hatten die USA angekündigt, dem Wunsch nach einer Modernisierung der türkischen F-16-Jets nachzukommen. Erdoğan könnte im Gegenzug nach knapp einem Jahr seine Blockade zum Beitritt Schwedens aufheben, seine Wiederwahl aber auch als Anlass für weitere Forderungen nutzen.
Kılıçdaroğlu sollte gehen
Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, da sind sich Beobachter einig, sollte jedenfalls als Vorsitzender der sozialdemokratischen CHP, der größten Oppositionspartei, zurücktreten – auch wenn er in der Nacht auf Montag versprach, "weiterkämpfen zu wollen". Schon vor der Wahl war ihm vorgeworfen worden, er sei als Kandidat des Oppositionsbündnisses zu charakterlos, zu unscheinbar, zu gemäßigt. Vor der Stichwahl änderte er zwar seine Taktik, gab sich populistisch und reißerisch, doch den Sieg holte er damit nicht mehr. "Er muss sich den Vorwurf gefallen lassen, keine einzige Wahl jemals gewonnen zu haben", betont Bağci.
Schmerzen dürfte das die Oppositionsparteien aber nicht, verfügen sie doch über genügend Personal in den eigenen Reihen und erhalten weit weniger Personenkult als Erdoğans AKP.
Genau das hingegen dürfte eine der größten Herausforderungen Erdoğans werden in den kommenden fünf Jahren: die Suche eines Nachfolgers.
Die schwierige Suche nach dem Nachfolger
"Wie wir von anderen autoritären Regimen wissen, setzt ein Machtwechsel das System enorm unter Druck. Es erhöht die Unsicherheit, schürt bei den etablierten Eliten Ängsten um ihren Platz in der Hierarchie und das angehäufte Vermögen und verschärft die Risse zwischen rivalisierenden Fraktionen innerhalb der Regierung und ihrer Klientel", analysiert der zu europäischen Beziehungen publizierende Politologe Dimitar Bechev. Die AKP hat sich sowohl inhaltlich als auch personell von Erdoğan abgängig gemacht. Bisher hat ihr das den Sieg gebracht, künftig dürfte aber genau das zum Problem werden: Erdoğan hat bereits vor dieser Wahl anklingen lassen, dass dies seine letzte Kandidatur sei; sein Gesundheitszustand dürfte sowieso kaum eine neuerliche zulassen.
Wie Erdoğan auch regieren wird: Leicht wird es für die Türkei in den kommenden fünf Jahren nicht.
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