Auf die falschen 40 Millionen gesetzt
Die Türkei ist tief gespalten. Die Hälfte der Bevölkerung hegt große Verehrung für ihren Präsidenten, der das Land vor 20 Jahren wirtschaftlich modernisiert, das Gesundheitssystem allen zugänglich gemacht und leistbaren Wohnraum geschaffen, Brücken, Straßen und Einkaufszentren aus dem Boden gestampft hat; der Treue mit Jobs, Aufträgen und finanziellen Goodies belohnt, die türkische Identität hochschreibt und dem Land einen eigenständigen, selbstbewussten Platz in der Welt einräumt.
Die andere Hälfte der Bevölkerung nennt ihn einen "Diktator", kritisiert Korruption und die inoffizielle dreistellige Inflation, die die Mittelklasse in die Armut rutschen lässt, die aufoktroyierte, islamisch-konservative Lebensweise, die Einschränkung der Medien- und Meinungsfreiheit und das Fehlen einer unabhängigen Justiz.
Jeder, der auf einen Sieg der Opposition gesetzt hatte, hat einfach auf die falsche Hälfte der Bevölkerung gesetzt. Das sind aber immerhin über 40 Millionen Menschen.
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Lernfähige Opposition
Was die Wahl aber gezeigt hat – und Demokratieanhängern, Erdoğan-Kritikern und der enttäuschten Bevölkerungshälfte hoffentlich ein Lichtblick ist: Die Demokratie in der Türkei lebt und kämpft. Eine Wahlbeteiligung von 84 Prozent (88 Prozent in der ersten Runde) und ein Ergebnis von nur ein paar Prozentpunkten hinter Erdoğan für eine vorübergehend geeinte, extrem heterogene Opposition in einem Land, in dem der Amtsinhaber 42 Stunden Fernsehzeit, sein Herausforderer 32 Minuten vor der Wahl bekam, in dem Wahlbeobachter der Opposition bedroht und Oppositionelle mit einem Politverbot wegen "Präsidentenbeleidigung" belegt werden, in dem selbst die Wahlbehörde politisiert ist, sind ein extrem starkes Ergebnis.
Die Opposition hat gezeigt, sie ist gut im Lernen: 2018 verfolgte sie noch den Plan, mit mehreren Präsidentschaftskandidaten Erdoğan die Stimmen abzugraben, jetzt zwängte sie ihn mit einem gemeinsamen Kandidaten erstmals in eine Stichwahl. Erdoğans Bild des starken Mannes ist nicht nur dadurch geschwächt: Sein Machterhalt ist immer mehr auf die Unterstützung von Kleinparteien angewiesen. Dazu kommt sein angeschlagener Gesundheitszustand und die Frage der Nachfolge, die wie ein Damoklesschwert über seiner AKP hängt.
Die Opposition und die enttäuschten Jungwähler, die nun mit dem Gedanken spielen, die Türkei zu verlassen: Sie haben die Zeit auf ihrer Seite. Nächstes Jahr stehen Lokalwahlen an. Eine geeinte Opposition könnte mit den richtigen Kandidaten an der Spitze noch erfolgreicher sein als 2019, als sie Istanbul für sich gewann. Und bei der nächsten Wahl, voraussichtlich 2028, sind vielleicht sie es – und all jene, die sich diesmal geirrt haben – die den Sieg feiern können.
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