Aber, Umfragen hin oder her (die zumal in der Türkei ohnehin mit Vorsicht zu genießen sind): Erdoğan zu früh abzuschreiben, wäre ein fataler Fehler. Der Mann kann Wahlkampf wie kein Zweiter im Land am Bosporus. Und er hat den unbedingten Siegeswillen – seit Jahr und Tag ist es sein Ziel, im Herbst, zum 100. Geburtstag der modernen Türkei, an der Spitze des Staates zu stehen. Gleichsam als Landesvater wie weiland Mustafa Kemal Atatürk.
Ob Erdoğan das Husarenstück schafft, wird wesentlich auch davon abhängen, wie die Bevölkerung die Arbeit der Regierung in Bezug auf die Bebensituation bewertet. Gelingt es den Verantwortlichen, bis zum Wahltag noch spürbare Fortschritte zu erzielen, könnte sich nach den anfänglichen Versäumnissen das Blatt wenden. Der Präsident buttert jedenfalls ganz viele Ressourcen (personell wie finanziell) in dieses Projekt. Seine Botschaft: Seht her, nur ich kann euch aus dieser Krise führen.
Heterogene Opposition
Das ist zwar vermessen, wie so vieles, das Erdoğan sagt und tut, aber an der Schlagkraft der vereinten Opposition muss man tatsächlich zweifeln. Und zwar nicht nur deswegen, weil deren Anführer, Kemal Kiliçdaroğlu, schon 74 Jahre alt und wenig charismatisch ist, sondern weil die Allianz heterogener nicht sein könnte: Da tummeln sich Sozialdemokraten, stramme Nationalisten und sogar Islamisten. Das einzig Verbindende ist der Slogan: "Erdoğan muss weg!"
Das wäre nach gut 20 Jahren wirklich einmal ein Ding, weil Demokratie doch vom Wechsel lebt, aber als einziger Kitt taugt es wenig – wie man bei ähnlichen Experimenten in Ungarn oder Israel sehen konnte. Einmal an der Macht, würde das ständige Rücksichtnehmen auf die Interessen so unterschiedlicher Parteien dieses Bündnisses ein effektives Regieren sehr schwierig machen. In diese offene Flanke stößt der gewiefte Taktiker der Macht genüsslich.
Letztlich wird entscheidend sein, ob die Türken mehrheitlich genug haben von dem mittlerweile sehr bleiernen System Erdoğan oder ob sie noch einmal – gerade in Krisenzeiten – dem Altbekannten ihre Stimme geben.
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