Türkei-Wahlen: Polit-Beben nach den beiden Mega-Beben?

Inmitten der Trümmerlandschaft in der türkischen Stadt Adiyaman ragt ein von den Erdbeben vom 6. Februar unversehrt gebliebener Rohbau mehrere Stockwerke gen Himmel. An der Außenwand flattert ein sicher zehn Meter langes Transparent – dessen einziges Motiv ist eine Abbildung des Gesichts von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Und die Botschaft ist klar: Ich bin bei euch in diesen schwierigen Zeiten, ich bin der Fels in der Brandung.
Als solcher will er das Ruder bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai noch herumreißen (auch das Parlament steht an diesem Tag zur Disposition). Denn Umfragen legen nahe, dass er mit seiner islamisch-konservativen AKP erstmals nach mehr als zwei Jahrzehnten die Macht verlieren könnte. Und die Katastrophe in weiten Teilen der Türkei (betroffen ist ein Gebiet so groß wie Deutschland) mit mehr als 50.000 Toten ist eines der zentralen Themen der Wahlauseinandersetzung. Vielfach wurde und wird der Regierung in Ankara ja vorgeworfen, zu spät und zu unentschlossen auf die Beben der Stärke 7,7 und 7,6 reagiert zu haben.
Erdoğan wirft nun alles in die (Wahl-)Schlacht: In Adiyaman entsteht gerade mit 25.000 Einheiten eine der größten Container-Siedlungen der Region. In einer Mega-Suppenküche werden 350.000 Mahlzeiten pro Tag zubereitet. Täglich landen auf dem Regionalflughafen 40 Militärmaschinen mit Hilfsmaterial.

Staatspräsident Erdoğan
Der Präsident beteuert, in einem Jahr den Großteil der zerstörten Gebäude wieder aufbauen zu lassen. Zugleich bittet der 69-Jährige seine Landsleute, ihn mit einem weiteren, fünfjährigen Mandat auszustatten. Zumindest einmal noch, danach werde er in den Ruhestand treten.
Der Bezirk Gölbaşi in der Provinz Adiyaman: Gouverneur Yilmaz Doruk preist die Katastrophenhilfe in den höchsten Tönen. Er stammt eigentlich aus der Schwarzmeer-Provinz Artvin – und wurde seinem örtlichen Amtskollegen als Assistenz zur Verfügung gestellt, damit der Wiederaufbau schneller vonstatten geht. Auch in den übrigen zehn betroffenen Provinzen (fast alle AKP-Hochburgen) wurde diese Vorgangsweise gewählt, um die Arbeiten zu beschleunigen.

Überall in der Region sieht man Zelte und Container, auf denen groß die Buchstabenkombination AFAD prangt, die für die türkische Katastrophenschutzbehörde steht. Auch im provisorischen Büro von Yilmaz Doruk hängt ein großes Plakat der Organisation, flankiert einerseits von Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk (Vater der Türken), und andererseits von Erdoğan, der sich gerade im 100. Jahr seit Staatsgründung in dessen Tradition sieht und sich gerne als Landesvater des 21. Jahrhunderts präsentiert.

Kemal Kiliçdaroğlu führt die Opposition an
Heterogene Opposition
Er alleine habe die Kraft, die Nation aus dem Tal der Tränen zu führen. Die Opposition sei zutiefst zersplittert. Tatsächlich hat sich zwar das Anti-Erdoğan-Lager diesmal auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können. Doch zum einen ist der Chef der kemalistisch-sozialdemokratisch CHP, Kemal Kiliçdaroğlu, 74, wenig charismatisch. Und zum anderen ist das Oppositionsbündnis eine höchst heterogene Gruppe, die islamistische, nationalistische und eben sozialdemokratische Politiker beinhaltet.

Wahlzuckerl
Und dann wären da noch Erdoğans Wahlkampfzuckerl. So erhöhte er den Mindestlohn bereits im Jänner dieses Jahres um 50 Prozent – nachdem die Inflation allerdings im Vorjahr auf mehr als 75 Prozent gestiegen war.
Heute startet die AKP von Präsident Erdoğan in den Wahlkampf. Für die HDP jedoch könnte der Tag schon wieder das Ende aller Träume bedeuten: Denn das Verfassungsgericht will über das Verbot der Kurden-Partei beraten.
Dabei könnte die Gruppierung, die bei dem Urnengang 2018 als drittstärkste Fraktion durch Ziel ging, das Zünglein an der Waage sein – nicht nur bei den Parlamentswahlen, sondern vor allem auch bei den Präsidentschaftswahlen. Für Letztere hat die HDP diesmal keinen eigenen Kandidaten aufgestellt, um alle Kräfte im Anti-Erdoğan-Lager zu versammeln. Offiziell gibt es zwar keinen Aufruf an die Anhänger, für den CHP-Chef und Anführer des Oppositionsbündnisses, Kemal Kiliçdaroğlu, zu votieren. Doch aus dem Gefängnis heraus hat der wegen seines Polit-Engagements seit 2016 inhaftierte Kurdenpolitiker Selahattin Demirtaş genau dazu aufgerufen.
Sollte kein Kandidat im ersten Anlauf mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten, kommt es 14 Tage später zur Stichwahl.
Bisher gab es aus Rücksicht auf den muslimischen Fastenmonat Ramadan kaum Wahlkampf. Doch damit ist jetzt Schluss – Tayyip Erdoğan und seine AKP starten heute, Dienstag, mit dem intensiven Werben um Stimmen. Die kommenden knapp fünf Wochen versprechen eine knallharte Auseinandersetzung.
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