Heute wird gewählt: Wie die Türkei ihre Fesseln loswerden will
Nach 20 Jahren an der Macht droht Präsident Erdoğan die Abwahl. Er hat das Land geprägt wie vor ihm nur Republikgründer Atatürk – aber auch tief gespalten.
Funda hat bereits alles organisiert. Sie wird Yoğurtlu Havuç machen, einen türkischen Vorspeisen-Dip aus Joghurt und Karotten; ihre Mutter bringt Menemen, Eierspeise mit Tomaten und Zwiebeln. Selbst der Champagner ist schon eingekühlt. Die Köstlichkeiten sind aber nicht für ihren Geburtstag am Montag gedacht. Sondern für die Wahlparty, die sie mit ihrer Familie vorbereitet.
Sie sei eigentlich kein politischer Mensch, sagt die 38-jährige Werbedesignerin im geblümten Kimono, und nimmt einen Schluck von ihrem Mokka. "Aber mittlerweile greift die Politik in all unsere Lebensbereiche ein. Familien streiten, Kinder suchen sich ihre Freunde nach Parteizugehörigkeit aus. Das muss endlich aufhören." Funda hofft, dass es nach einem Sieg des Oppositionsbündnisses besser wird. Sie spricht in der Zukunftsform, nicht im Konjunktiv, und nickt. So sicher ist sie sich in ihrer Prognose.
So wie Funda denken viele Türkinnen und Türken, vor allem die Jungen im multikulturellen Istanbul. Der Wahl kann hier keiner entfliehen: Über den Straßen sind Fähnchen der Parteien gespannt, in knalligem Blau und Orange für die islamisch-konservative AKP, in leuchtendem Rot für die sozialdemokratische CHP. Von der Wand eines Wohnhauses blickt ein überdimensionaler Erdoğan herab: „Richtige Zeit, richtiger Mann“, lautet der Wahlslogan darunter.
Doch gut die Hälfte der 64,1 Millionen wahlberechtigten Türken scheint das nicht (mehr) zu glauben. Denn bei der Wahl am Sonntag könnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan trotz eines auf ihn zugeschnittenen Staatsapparats entmachtet werden. Sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu hat die heterogene Opposition hinter sich, besticht als bescheidener, farbloser "Anti-Erdoğan". Seine inhaltlichen Positionen sind für viele zweitrangig; sie wollen nach 21 Jahren endlich jemand Neuen an der Staatsspitze.
Erdoğan wäre an seiner Abwahl selber schuld, sagt Hüseyin Bağci. Der KURIER trifft den Politologen in seinem Büro in Ankara. Bağci holt ein Buch aus dem Regal, zeigt Fotos von sich mit Putin, Gorbatschow, Stoltenberg. Er gilt als Koryphäe der türkischen Politik, so versiert und geschätzt, dass er schon mehrmals von allen Parteien des politischen Spektrums angefragt worden ist, ob er nicht für sie als Abgeordneter kandidierten möchte. Bağci hat immer abgelehnt.
Spalten für den Machterhalt
"Erdoğan hat die Gesellschaft so polarisiert, dass er sie nicht mehr einen kann“, sagt Bağci. Er nennt Erdoğan ein "Political Animal": "So wollte er seine Macht zementieren, ähnlich wie wir das in Amerika, Frankreich, Ungarn sehen." Gleichzeitig ist er immer autoritärer gegen das Volk vorgegangen, gegen Meinungsfreiheit und Kritik. Hätte Erdoğan diesen Fehler nicht gemacht, er hätte der zweite Atatürk werden können: "Das Volk hat ihm so oft so viel Vertrauen geschenkt, das war fast schon übermenschlich."
Türkei: Wer Erdoğan stürzen könnte
Die Angst in den Köpfen
Die Angst, etwas Falsches zu sagen, das unerwünschte Zuhörer am Nebentisch mitbekommen könnten, hat sich in den Köpfen vieler festgesetzt. Bizet spricht ausgezeichnet Deutsch und studiert Politikwissenschaften. Sie rede nur mit ihren Freunden über Politik und niemals in der Öffentlichkeit, sagt die zierliche Frau. Auch in den sozialen Netzwerken hält sie ihre Meinung zurück, "seit einmal mein Twitter-Account gesperrt worden ist." Sie habe etwas über Frauenrechte getwittert, erinnert sie sich. "Ich bin weder radikal noch gehöre ich einer Partei an. Aber selbst der Wunsch nach Demokratie und Meinungsfreiheit kann schon gefährlich sein." Deswegen möchte sie auch ihr Foto nicht in der Zeitung sehen.
Für Azad (Name geändert) wäre es sogar gefährlich, seinen echten Namen hier zu lesen. Sein Buchladen liegt in einem der lautesten, buntesten Teile Istanbuls, in einer kleinen Seitenstraße, leicht zu übersehen. In den Regalen finden sich gebrauchte Bücher in allen Sprachen, darunter Stefan Zweigs Schachnovelle und ein Lehrbuch für türkisch-deutsche Handelsbeziehungen aus dem Jahr 1982. Nur über den Republikgründer Atatürk habe er keines. "Ich verkaufe keine Bücher über Diktatoren", sagt er knapp.
Azad überlegt, bevor er antwortet. Er kommt aus Kurdistan, einem Tabuwort in der Türkei. Den Großteil seiner Tage verbringt er in seinem Laden, hier fühlt er sich wohl, kann mit seinen Freunden ungestört reden. Er findet: Die gesellschaftliche Diskriminierung der kurdischen Minderheit, die fast 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, ist immer noch da, wird von Erdoğan befeuert, auch wenn dieser ihr einst das Recht auf Sprache und kurdische TV-Sender gewährt hatte. Etwa, wenn allen Kurden pauschal Nähe zur kurdischen Terrororganisation PKK unterstellt wird.
Azad wird still. Er weiß, dass ihn seine Positionen in Schwierigkeiten bringen könnten.
Im 100. Jahr ihres Bestehens sprechen Beobachter von einer schicksalsträchtigen Wahl für die türkische Republik – einer Wahl zwischen Autokratie und Demokratie. Erdoğan regiert seit 21 Jahren, Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP tritt als Spitzenkandidat eines Bündnisses von linken, liberalen und islamistischen Oppositionsparteien an.
Eine Inflation von (offiziell) 43,7 Prozent, die Lira auf dem tiefsten Stand seit ihrer Einführung, kaum bezahlbare Lebensmittel: Es ist einerseits die schlechte Wirtschaftslage, die Erdoğan stürzen könnte, andererseits die über 50.000 Tote nach dem Erdbeben Anfang Februar. Viele Betroffene machen die Behörden dafür verantwortlich, dazu kommt Erdoğans Missmanagement nach dem Beben.
51,7 Prozent der Stimmen sagt das renommierte Meinungsforschungsinstitut ORC Kılıçdaroğlu am Freitag voraus, 44,2 Prozent für Erdoğan. Bei der letzten Wahl 2018 hatte das Institut das Ergebnis korrekt vorhergesagt.
Ein Viertel weiter nördlich steht Arem Özborun vor einem Zelt der AKP, verteilt Flugblätter. Auch er ist Kurde, aus Zentralanatolien, steht aber auf der Seite des Präsidenten: "Erdoğan hat uns unsere Ehre zurückgegeben", sagt der Mann, und streckt vier Finger zum "Rabia-Gruß" in die Luft – das Symbol der islamistischen Muslimbrüder zur Unterstützung des Islamismus, das auch Erdoğan verwendet. Selbst die Kurden sind gespalten, wenn es um Erdoğan geht.
Ende der Ära Erdoğan?
Die große Hoffnung von Funda, Bizet und Azad: dass es in der Türkei nach heute wieder möglich sein wird, eine andere Meinung als die der Regierung offen kundzutun. Das ist eines der großen Versprechen der Opposition.
"Erdoğan hat den Kurden Ehre und Ruhm gegeben", sagt der AKP-Wähler Arem Özborun.
2002 hat Bağci prophezeit, Erdoğans AKP würde mindestes zehn Jahre an der Macht bleiben. "Die Zeit gab ihm Recht. 2018 sprach er vom Beginn des Endes der AKP. Jetzt könnte es besiegelt werden.
Warum er das weiß? Bağci lacht, er habe nie am Demokratieverständnis der Türken gezweifelt: "Erdoğan hat versucht, die Demokratie abzubauen, aber die ist in unserer DNA stärker verankert, als man denkt. Wir haben aus unserer Geschichte gelernt", verweist er auf die zahlreichen Militärputsche und Putschversuche seit der Staatsgründung vor 100 Jahren. Und auch die hohe Wahlbeteiligung (2018: rund 86 Prozent) unterstreicht seine These.
Der Politologe ist sich im Gegensatz zu anderen Beobachtern oder Teilen der Bevölkerung sicher, dass Erdoğan eine Niederlage anerkennen würde – vor allem, wenn die Opposition mit großem Vorsprung gewinnt: "Erdoğan glaubt nach wie vor an den Willen des Volkes."
Knallen würde dann, im Falle eines Sieges Kılıçdaroğlus, nur Fundas Champagnerkorken.
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