Erdoğan oder Kılıçdaroğlu: Wer wird der neue starke Mann in der Türkei?
Am Sonntag entscheidet sich die türkische Bevölkerung zwischen Amtsinhaber Erdoğan und Herausforderer Kılıçdaroğlu. Wie die beiden Kandidaten ihre Wähler mobilisieren.
Eine Inflation von offiziell 50,5 Prozent (inoffizielle Zahlen sprechen vom doppelten bis dreifachen Wert), mehr als 50.000 Erdbebentote: Das ist die Ausgangslage, unter der die Türkei am Sonntag in die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen geht. Kritische Beobachter sprechen von einer zukunftsentscheidenden Wahl für die Republik im 100. Jahr ihres Bestehens: Sollte Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seiner islam-konservativen AKP ein weiteres Mal bestätigt werden, könnte er sich zum Herrscher auf Lebzeiten aufschwingen.
Blind vertrauen sollte man den Umfragen zwar nicht, doch liegt das Oppositionsbündnis um Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP seit Wochen vor Amtsinhaber Erdoğan. Eine Prognose von PolitPro von Donnerstag sagte Kılıçdaroğlu ein Ergebnis zwischen 47 und 54 Prozent der Stimmen voraus, Erdoğan zwischen 42 und 46.
Dass sich der dritte Kandidat im Rennen, der ehemalige CHP-Politiker Muharrem Ince, am Donnerstag überraschend aus dem Rennen zurückzog, spielt der Opposition zusätzlich in die Karten. Ince war vor allem bei nostalgischen Atatürk-Anhängern und Jungwählern beliebt; sie könnten die Opposition nun knapp über die die Wahl entscheidenden 50 Prozent im ersten Durchgang tragen. Wie die Wahl ausgeht, ist aber erst am Sonntagabend sicher.
Recep Tayyip Erdoğan, der "Weltenführer"
So nennen zumindest seine Anhänger ihr Idol, wenn sie in voller Verehrung über den türkischen Präsidenten sprechen, der es aus dem einem Istanbuler Hafenviertel hinaus in einen Palast mit 1.000 Zimmern geschafft, die Türkei reformiert und zu einem aktiven Player auf der Weltbühne gemacht hat.
Erdoğans große Stärke: sein Charisma und seine rhetorischen Fähigkeiten. Erdoğan bringt seine Anhänger zum Jubeln, als würde ein Popstar vor ihnen auf der Bühne stehen. Damit schaffte er es 1994 zum Bürgermeister von Istanbul und – trotz vier Monaten im Gefängnis, weil er ein volksverhetzendes Gedicht zitiert hatte – 2002 zum Ministerpräsidenten.
Breite Popularität sicherte er sich durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen: Er förderte internationale Investoren, schaffte das Kopftuchverbot ab, gab der unbeliebten kurdischen Minderheit das Recht auf ihre Sprache und kurdische Fernsehsender und reduzierte die Macht des in der Vergangenheit immer wieder putschenden Militärs. Und er verhalf der Türkei zu einer Regionalmacht, die heute im Nahen Osten, in Afrika und im Krieg in der Ukraine eine große sicherheitspolitische Rolle spielt.
Spätestens seit den regierungskritischen Gezi-Protesten 2013 agierte Erdoğan aber immer autoritärer, schränkte die Meinungsfreiheit ein. Seine Rhetorik wurde polarisierender, er schaffte die Gewaltenteilung und das Amt des Ministerpräsidenten ab, schnitt als Präsident den Staatsapparat auf sich zu.
In den letzten Jahren begann sein Bild des starken Mannes aber zu bröckeln. Den Wahlkampf musste er gesundheitsbedingt unterbrechen.
Dennoch hat er das Land geprägt, wie vor ihm nur Republikgründer Atatürk. Auf ihn gehen Prestigeprojekte wie der Istanbuler Flughafen, das erste türkische E-Auto und Atomkraftwerk zurück. Neben Brücken und Einkaufszentren baute er vor allem Moscheen, 2019 die größte des Landes, die Çamlıca-Moschee, die 63.000 Menschen fasst. Sein Anspruch: Die Moschee müsse von jedem Punkt in Istanbul sichtbar sein. Sein großer Traum aber, der eines zweiten, angelegten Bosporus’, eines Istanbul-Kanals, könnte bei einer Niederlage am Sonntag platzen.
Den Spitznamen bekam Kılıçdaroğlu nicht nur aufgrund seiner äußerlichen Ähnlichkeit zum indischen Freiheitskämpfer verpasst, sondern auch wegen der Werte, die er vertritt: Demokratie, Menschenrechte, Meinungsfreiheit. Und wie Gandhi marschierte auch er für seine Prinzipien: 2017 organisierte er einen "Gerechtigkeitsmarsch", 420 Kilometer von Ankara nach Istanbul, um gegen die Verhaftung eines Parteikollegen zu demonstrieren. 20 Tage war er unterwegs.
Bis vor wenigen Monaten galt dieser Marsch als seine bisher am meisten beachtete politische Aktion. Davor blieb der Finanzbeamte aus der Provinz Tunceli in Ostanatolien trotz 20 Jahre in der Spitzenpolitik eher unscheinbar, galt als farblos. Gerade dieses Verhalten als "Anti-Erdoğan" dürfte ihn an die Spitze des enorm heterogenen Parteienbündnisses gebracht haben, das sowohl linksgerichtete als auch liberale und islamistische Kräfte – zumindest vorübergehend – vereint.
Die wichtigsten Versprechen des Bündnisses: das Ende des politischen Islams, die Rückkehr zum parlamentarischen System, die Bekämpfung der Inflation und die Unabhängigkeit der Justiz.
In den letzten Wochen des Wahlkampfes gewann Kılıçdaroğlu immer mehr an Profil, gab sich bodenständig, selbstbewusst, zäh. Mit seinen Wählern kommunizierte er täglich über die sozialen Medien, schickte Videos aus der eigenen Küche. Große Aufmerksamkeit brachte ihm sein "Outing" als Alevit, als Teil der religiösen Minderheit in der mehrheitlich sunnitischen Türkei, ein. Seiner Popularität tat das keinen Abbruch, im Gegenteil. Das Herz, das er bei seinen öffentlichen Auftritten mit Daumen und Zeigefingern immer formt, ist mittlerweile zu einem Symbol der Einheit der gesamten Opposition geworden.
Beliebt ist Kılıçdaroğlu vor allem bei Jungen, Frauen und den fünf Millionen Erstwählern. Und es ist der Amtsinhaber selbst, der ihm in die Karten spielt: Denn die größte Motivation seiner Wählerinnen und Wähler ist das Ende der Ära Erdoğan.
Kommentare