Rechte Hand von Erdoğan-Herausforderer: "Seine Zeit ist abgelaufen"
Selçuk Sarıyar ist überzeugt, dass der Oppositionelle Kemal Kılıçdaroğlu kommende Woche zum neuen türkischen Staatschef gewählt wird. Was sich unter ihm ändern soll.
Vor dem Haupteingang des CHP-Hauptquartiers in Ankara wartet Spitzenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu. Überdimensional grüßt der Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan von einem Plakat herab, ihm über die Schulter blickt der Republik- und Parteigründer Atatürk. "Wenn wir zusammenstehen, wenn wir zusammen kämpfen, wird alles gut in diesem Land", lautet die Parole daneben.
"Besser mit EU zusammen arbeiten"
Der KURIER trifft hier Selçuk Sarıyar. Der 39-Jährige war Vorsitzender der CHP-Jugendorganisation in Istanbul, ist heute Stadtrat und Vizebürgermeister der Millionenmetropole und unterstützt Kılıçdaroğlu in auswärtigen Angelegenheiten.
Im Büro im 6. Stock ist es warm, Sarıyar hat seine Hemdärmel aufgekrempelt, spricht ausgezeichnet Englisch und antwortet ausführlich. Und ist sich sicher, dass sich am 14. Mai alles ändern wird in der Türkei.
KURIER: Herr Sarıyar, wer wird die Präsidentschaftswahl gewinnen?
Selçuk Sarıyar: Kemal Kılıçdaroğlu, natürlich. Und zwar schon im ersten Wahldurchgang.
Sie glauben nicht, dass es zu einer Stichwahl kommen wird? Da würden Ihnen einige Beobachter widersprechen.
Ich habe Vertrauen in die türkische Bevölkerung. Die AKP regiert seit über 20 Jahren, mehr als die Hälfte meines Lebens stand Erdoğan an der Spitze dieses Landes. Meine Tochter ist acht Jahre alt, sie soll nicht dasselbe erleben. So denken viele in der Bevölkerung, vor allem die Jungen.
Das Oppositionsbündnis ist sehr heterogen, Ihre sozialdemokratische CHP tritt gemeinsam mit liberalen, nationalistischen und islamistischen Parteien an. Wie stabil kann so ein Bündnis sein?
Links oder rechts sind gerade keine Kategorien, die wichtig sind. Bei der Wahl entscheidet die Bevölkerung zwischen Demokratie oder Autokratie. Die Parteien haben eine Vereinbarung mit über 2.400 Vorsätzen unterzeichnet.
Nach der Wahl wird es sieben Vizepräsidenten geben, sie werden das Land nach diesem Vertrag führen. Das Wichtigste wird sein, Erdoğans Präsidialsystem zu ändern und der Inflation entgegenzuwirken.
Trotzdem: Besteht nicht die Gefahr, dass das Bündnis bald nach der Wahl in Brüche gehen könnte? Man denke an ähnliche Versuche in anderen Ländern, Israel zum Beispiel. Ist das nicht riskant?
Es ist riskanter, dass das Land autokratisch von einer Person regiert wird. So unterschiedlich die Parteien auch sind, sie sind alle auf der Seite der Demokratie. Das verbindet.
Dem Spitzenkandidaten Kılıçdaroğlu wird häufig vorgeworfen, er wäre charakterlos, zu ruhig, schwach. Wie viele werden die Opposition wegen ihm wählen, und wie viele nur, um Erdoğan loszuwerden?
Beides werden Motive sein. Gerade weil Kılıçdaroğlu bedacht ist, kein Ego hat, für Demokratie, Pluralismus und Ko-Existenz steht und das Gegenteil von Erdoğan ist, ist er für viele attraktiv. Andere motivieren die Probleme der Türkei, wirtschaftliche und soziale, im Gesundheits- und Bildungssystem.
Erdoğans Regierung kann keine Lösungen mehr anbieten, sie ist schuld daran, dass nicht die Qualifiziertesten in den Ämtern sitzen, sondern Freunde und Parteikollegen. Dass Verwaltung und Management nicht funktionieren, das hat man nach dem Erdbeben gesehen. Erdoğans Zeit ist abgelaufen, die Menschen wollen eine Änderung.
Die Opposition will das Präsidialsystem abschaffen und das Amt des Ministerpräsidenten wieder einführen. Kılıçdaroğlu hätte dann wohl nur einen repräsentativen Posten inne. Wer würde dann Ministerpräsident?
Es wird zwei bis drei Jahre dauern, bis das System umgebaut ist. Aber diese Entscheidung wird dann die Bevölkerung bei einer Wahl treffen. Da kann dann natürlich auch Erdoğan kandidieren, ich bezweifle jedoch, dass er Erfolg hätte.
Wie würde sich die Türkei unter Kılıçdaroğlu verändern?
Erdoğan hat polarisiert, die Bevölkerung gegeneinander ausgespielt. Wir wollen Einheit schaffen. Neben Inflation und Korruption müssen wir uns auch um die Flüchtlingsthematik kümmern, die Türkei kann sich die Flüchtlinge aus Syrien nicht mehr leisten. Dafür werden wir auch mit der EU wieder besser zusammenarbeiten müssen.
Und außenpolitisch?
Wir verstehen uns derzeit mit keinem unserer Nachbarländer. Das müssen wir ändern. Zwischen Syrien und der Türkei muss Ruhe einkehren, für die türkische Bevölkerung und die in Syrien – nur so kann man auch die Flüchtlingsthematik lösen.
Wir werden uns mit Baschar al-Assad als Regierendem des Landes an den Tisch setzen müssen, ob wir wollen oder nicht.
Denken Sie, dass Sie auch die Auslandstürken überzeugen werden? Die sind vor allem in Europa mehrheitlich für Erdoğan. 2018 stimmten in Österreich 72,3 Prozent für ihn.
Diesmal wird das anders sein. Wenn sie Angehörige in der Türkei haben oder in der Pension ins Land zurückkehren wollen und sich ein gutes Leben wünschen, können sie gar nicht anders.
Sie sind Stadtrat und Vizebürgermeister in Istanbul. Eines der größten Probleme der Stadt ist der Wohnraum und die Erdbebengefahr. Was tun sie dagegen?
Die Mieten sind in manchen Bezirken unleistbar geworden, weil viele aus dem Ausland kamen und Geld mitbrachten. Im letzten Jahr waren das vor allem Russen und Ukrainer. Ein Türke mit einem durchschnittlichen Einkommen von 8.500 Lira netto im Monat (knapp 400 Euro) kann sich das nicht leisten, vor allem nicht die Jungen. Seit 2019 haben wir leistbaren Wohnraum für 5.000 Studenten geschaffen.
In anderen Teilen der Stadt sind Wohnungen nichts wert, weil sie bei einem Erdbeben einstürzen würden. Wir arbeiten derzeit an Rettungs- und Versorgungswegen über den Seeweg, wenn nach einem Erdbeben Straßen nicht benutzbar sind.
Es ist aber nicht leicht, Istanbul zu regieren: Erdoğans Regierung hat der Stadt nach dem Sieg von CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu 2019 Mittel gestrichen. Auch das wird anders werden nach der Wahl.
Wissen Sie schon, wo Sie am 14. Mai, am Tag der Wahl, sein werden?
Ich werde hier in Ankara im Hauptquartier sein, das ist fix. Wo ich danach sein werde, weiß ich noch nicht. Wir werden sehen, ob mich Präsident Kılıçdaroğlu hier behalten will.
Kommentare