Istanbul zwischen Mai-Demo, Wahlkampf und Atatürk

Heftiges Hupen und laute Sirenen; junge Polizisten, die in gebrochenem Englisch den aufgeregten Touristen zu erklären versuchen, warum das halbe Viertel inklusive dreier U-Bahn-Stationen abgesperrt ist. Istanbul ist an diesem ersten Mai noch eine Spur hektischer als sonst. Nur dem alten, etwas betagten Sesamring-Verkäufer kann der ganze Trubel nichts anhaben: "Ich kenn das schon, jedes Jahr dasselbe." So ruhig wie er präsentiert sich auch der abgesperrte, menschenleere Taksim-Platz – der eigentliche "Verantwortliche" für den ganzen Trubel. Nur am Rande kam es zu Rangeleien – doch dazu später.
Der erste Mai hat in Istanbul eine besonders symbolische Bedeutung: An jenem Tag 1977 begannen Unbekannte auf dem Taksim, dem Dreh- und Angelpunkt der Stadt, auf Demonstrierende zu schießen. 34 Menschen wurden getötet, 200 verletzt. Der Tag ging als "Kanlı 1 Mayıs", als "Blutiger 1. Mai" in die Geschichte ein.
Seitdem ist der Platz für Mai-Demos gesperrt, auch heuer. Lediglich eine Gruppe des linken Gewerkschaftsverbandes DISK durfte am Denkmal der Republik mitten auf dem Platz einen Kranz niederlegen.

So sieht man ihn selten: Der Taksim-Platz war am Montag abgesperrt und menschenleer.
Doch zwei Wochen vor der zukunftsentscheidenden Wahl am 14. Mai ist die Stimmung in der Millionenmetropole am Bosporus an dem Tag noch aufgeladener als sonst, die Demos am 1. Mai für die Rechte der Arbeitnehmer sind auch immer eine Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Und wie schon in den letzten Jahren hielten sich auch diesmal nicht alle Demonstrierenden an das Platzverbot.
Dutzende Festnahmen
Bereits am Morgen versuchten Gruppen, die Absperrungen zu überwinden; die Polizei hinderte sie mit Plastikschildern daran. Lokalen Medienberichten zufolge, wurden dutzende Menschen, auch Journalisten, die den Protest filmten, teils gewaltsam festgenommen.

In Istanbul kam es zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrierenden: Diese versuchten, den Taksim-Platz zu erreichen
Heißer Wahlkampf
Vor einem Einkaufszentrum im wohlhabenderen Stadtteil Şişli, nördlich vom Taksim-Platz, beschäftigt man sich lieber mit der Zukunft als mit dem Feiertag: Izzet, Mehmet und Irmak arbeiten am Feiertag freiwillig und unbezahlt, sie verteilen Flyer der nationalkonservative İyi-Partei, die Teil des Oppositionsbündnisses um Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP ist. Die drei sind gerade 18 geworden, dürfen heuer zum ersten Mal wählen.
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Irmak, Mehmet und Izzet dürfen heuer erstmals wählen, und machen Wahlwerbung für das Oppositionsbündnis.
"Wir haben nie einen anderen Regierungschef erlebt, das geht in einer Demokratie nicht", erklären sie ihr Engagement. Erdoğan habe Gutes und Schlechtes getan, doch das Schlechte überwiege: "Er hat das gesundheits- und Schulsystem vernachlässigt, und arbeitet mit Islamisten zusammen. Wenn sie an der Macht blieben, dürften Mädchen vielleicht bald nicht mehr zur Schule gehen", sagt Irmak. Dass im Oppositionsbündnis ebenfalls islamistische Parteien sitzen, sei für sie nebensächlich. "Hauptsache, Erdoğan ist weg."

Ein Wagen von Erdoğans AKP. Der Mann im Anzug, Kaan Kasim Tüylü, ist Schauspieler, Science-Fiction-Autor und eine lokale Berühmtheit.
Ein paar Meter weiter steht ein Wagen von Erdoğans AKP, das Gesicht des Präsidenten überdimensional auf der Autotür. Aus dem Lautsprecher dröhnt türkische Musik. Kaan Kasim Tüylü ist Schauspieler, Science-Fiction-Autor und eine lokale Berühmtheit, lockt mit einem Mikrofon in der Hand die Passanten an. Auch er bekomme kein Geld, sagt er. "Erdoğan macht alles richtig, er liebt die Türkei, und die Menschen ihn", sagt er. Von einem Sieg Erdoğans ist er fest überzeugt.
Hoch über Tüylü, quer gespannt über die Straße bis zurück zum Taksim-Platz, wehen Fahnen mit dem Porträt des Republikgründers Atatürk. Er scheint als Einziger in der Stadt völlig unbeeindruckt von dem ganzen Trubel unter ihm.
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