Der erste Mai hat in Istanbul eine besonders symbolische Bedeutung: An jenem Tag 1977 begannen Unbekannte auf dem Taksim, dem Dreh- und Angelpunkt der Stadt, auf Demonstrierende zu schießen. 34 Menschen wurden getötet, 200 verletzt. Der Tag ging als "Kanlı 1 Mayıs", als "Blutiger 1. Mai" in die Geschichte ein.
Seitdem ist der Platz für Mai-Demos gesperrt, auch heuer. Lediglich eine Gruppe des linken Gewerkschaftsverbandes DISK durfte am Denkmal der Republik mitten auf dem Platz einen Kranz niederlegen.
Doch zwei Wochen vor der zukunftsentscheidenden Wahl am 14. Mai ist die Stimmung in der Millionenmetropole am Bosporus an dem Tag noch aufgeladener als sonst, die Demos am 1. Mai für die Rechte der Arbeitnehmer sind auch immer eine Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Und wie schon in den letzten Jahren hielten sich auch diesmal nicht alle Demonstrierenden an das Platzverbot.
Dutzende Festnahmen
Bereits am Morgen versuchten Gruppen, die Absperrungen zu überwinden; die Polizei hinderte sie mit Plastikschildern daran. Lokalen Medienberichten zufolge, wurden dutzende Menschen, auch Journalisten, die den Protest filmten, teils gewaltsam festgenommen.
Heißer Wahlkampf
Vor einem Einkaufszentrum im wohlhabenderen Stadtteil Şişli, nördlich vom Taksim-Platz, beschäftigt man sich lieber mit der Zukunft als mit dem Feiertag: Izzet, Mehmet und Irmak arbeiten am Feiertag freiwillig und unbezahlt, sie verteilen Flyer der nationalkonservative İyi-Partei, die Teil des Oppositionsbündnisses um Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP ist. Die drei sind gerade 18 geworden, dürfen heuer zum ersten Mal wählen.
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"Wir haben nie einen anderen Regierungschef erlebt, das geht in einer Demokratie nicht", erklären sie ihr Engagement. Erdoğan habe Gutes und Schlechtes getan, doch das Schlechte überwiege: "Er hat das gesundheits- und Schulsystem vernachlässigt, und arbeitet mit Islamisten zusammen. Wenn sie an der Macht blieben, dürften Mädchen vielleicht bald nicht mehr zur Schule gehen", sagt Irmak. Dass im Oppositionsbündnis ebenfalls islamistische Parteien sitzen, sei für sie nebensächlich. "Hauptsache, Erdoğan ist weg."
Ein paar Meter weiter steht ein Wagen von Erdoğans AKP, das Gesicht des Präsidenten überdimensional auf der Autotür. Aus dem Lautsprecher dröhnt türkische Musik. Kaan Kasim Tüylü ist Schauspieler, Science-Fiction-Autor und eine lokale Berühmtheit, lockt mit einem Mikrofon in der Hand die Passanten an. Auch er bekomme kein Geld, sagt er. "Erdoğan macht alles richtig, er liebt die Türkei, und die Menschen ihn", sagt er. Von einem Sieg Erdoğans ist er fest überzeugt.
Hoch über Tüylü, quer gespannt über die Straße bis zurück zum Taksim-Platz, wehen Fahnen mit dem Porträt des Republikgründers Atatürk. Er scheint als Einziger in der Stadt völlig unbeeindruckt von dem ganzen Trubel unter ihm.
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