Umfragen: Es wird knapp
Kiliçdaroğlu ist der einzige Kandidat, der Erdoğan nach zwei Jahrzehnten an der Macht bei der Wahl das Wasser reichen kann, die meisten Umfragen sehen ein knappes Ergebnis. Dabei war die Skepsis ihm gegenüber groß, als im März klar wurde, dass er ein politisch breit gefächertes Oppositionsbündnis in die „Schicksalswahl“ führen soll.
Denn der 74-Jährige gilt nicht als großer Rhetoriker, führt die sozialdemokratische CHP seit 2010 wie in seinen Videos mehr leise als laut. Die Strippen zieht er vor allem im Hintergrund – das aber durchaus überzeugend, die sechs Parteien-Union hinter ihm zählt zu seinen größten Erfolgen. In Kombination mit seinem Aussehen, das viele an den indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi erinnert, hat ihm sein ruhiges Verhalten den Spitznamen „Gandhi Kemal“ eingebracht.
Sollte er gewinnen, hat er sich vor allem eines vorgenommen: Es anders zu machen als Erdoğan, den auch der sonst gemäßigte Kiliçdaroğlu einen „Diktator“ nennt. Er will einige seiner Verfassungsänderungen rückgängig machen und dem Parlament Macht zurückgeben. Kiliçdaroğlu kündigte zudem an, von Erdoğan in hohe Staatspositionen gehievte Leute durch „Fachpersonal“ austauschen zu wollen. Und anders als der amtierende Präsident strebt er eine stärkere Trennung zwischen Religion und Staat an.
Widersprüche
Das ist auch ein Grund, warum das „Ich bin Alevit“-Video nicht bei allen Oppositionellen gut ankam – ein falsches Signal von jemandem, der stets bekräftigt, alle religiösen Zugehörigkeiten seien willkommen, so der Vorwurf.
Es ist aber nicht der einzige Widerspruch, der Fragen aufwirft. Als 2016 Teile des Militärs gegen Erdoğan putschten, stellte Kiliçdaroğlu sich auf dessen Seite. Umgekehrt verurteilte Erdoğan in der Vergangenheit stets Angriffe auf seinen heutigen Konkurrenten. Zuletzt war das Verhältnis der beiden distanziert-freundlich: Als Erdoğan am Dienstag wegen Magenproblemen ein Interview abbrach, wünschte Kiliçdaroğlu ihm schlicht gute Besserung.
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