Was passiert, wenn Erdoğan die Wahl verliert? "Ihm ist alles zuzutrauen"
Herausforderer Kılıçdaroğlu hat am Sonntag gute Chancen, den türkischen Präsidenten abzulösen. Jetzt geht die Angst um, dass der Langzeitherrscher das Ergebnis nicht akzeptiert
Am Sonntag könnte die Ära Erdoğan Geschichte sein. Nach 20 Jahren an der Macht, zunächst als Premier, später als Präsident, steht der starke Mann am Bosporus vor der Abwahl: Umfragen prognostizieren seinem Herausforderer, CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu, den ersten Platz bei der Präsidentschaftswahl.
Nur: Was passiert, wenn der Autokrat verliert? Und das Ergebnis nicht akzeptiert?
Der Soziologe Kenan Güngör hält die Angst davor nicht für übertrieben. „Der Regierung Erdoğan ist mittlerweile leider alles zuzutrauen“, sagt er. Schon im Wahlkampf habe sie die Opposition delegitimiert, ihren Wahlkampf als „Putschversuch“ hingestellt. Fällt das Ergebnis allzu knapp aus, wenn etwa Kılıçdaroğlu auf weniger als 51 Prozent kommt, könnte der abgewählte Präsident so leicht Zweifel säen – unterstützt von militanten Anhängern auf der Straße: „Die AKP hat über die das letzte Jahrzehnt auch ein paramilitärisches Milizensystem aufgebaut, die jederzeit für Unruhen sorgen können.“
Dass Erdoğan es versteht, Niederlage in Siege zu verwandeln, hat er nämlich schon mehrfach beweisen. 2015, als seine AKP bei der Parlamentswahl die Absolute verlor, sprach er ganz offen von einem „Fehler“, der nur mit Neuwahlen zu korrigieren sei. Die brachten ihm – nachdem er im kurdischen Südosten Bomben regnen hatte lassen und sich selbst als einzig denkbaren Stabilitätsgarant inszeniert hatte – dann auch das gewünschte Ergebnis.
Allein, die Lage heute ist ein wenig anders. Erstmals seit Langem ist die Opposition geeint, und Erdoğan selbst kann wegen des Erdbeben-Missmanagements und der anhaltenden Wirtschaftskrise nicht mehr so stark von seinem Starker-Mann-Image profitieren. Dazu kommt, dass auch seine Netzwerke langsam beginnen zu bröckeln: „Ein Teil der Bürokratie und des Militärs, aber auch Teile der Medien setzen sich von ihm ab“, sagt Güngör. „Erdoğan ist in der Defensive.“ Zweifelt er diesmal auch die Wahl an und will sie wiederholen lassen, müsste er sich darauf verlassen können, dass ihm die Wahlkommissionen folgen – das ist aber derzeit nicht so sicher. Zuletzt versagten ihm bisher stets regierungstreue Beamte sogar die Bitte, dass das AKP-geführte Innenministerium die Stimmenauszählung am Sonntag überwachen darf.
Hüterin der Nation: Die türkische Armee ist seit der Staatsgründung 1923 Teil der nationalen Identität – sie wurde von Staatsgründer Kemal Atatürk, selbst gefeierter Kriegsheld, als Hüterin der Nation und der Trennung von Religion und Staat stilisiert
Staatsstreiche: In dieser Rolle hat das Militär mehrfach – 1960, 1971, 1980, 1997, 2007 und 2016 – versucht, die politische Führung zu stürzen, teils mit Erfolg. Nach dem letzten Putschversuch nahm Erdoğans Herrschaftsstil autokratische Züge an. Er ließ Zehntausende festnehmen, entließ 130.000 Staatsbeamte, darunter Richter und Staatsanwälte, brachte mehr als 90 Prozent der Medien unter seine Kontrolle
Dass dort zugunsten des Amtsinhabers manipuliert werde, sei nämlich sehr wahrscheinlich, sagt Experte Güngör. Als 2019 in Istanbul der Oppositionskandidat vorne gelegen ist, seien die Auszählungen einfach gestoppt worden, sagt er – Ähnliches sei auch am Sonntag denkbar. Die Opposition – deren Kandidat damals übrigens trotz aller Interventionen gewonnen hat – hat darum vorgesorgt: Man schickt Hunderttausende Beobachter, um die Auszählung zu überwachen, und man thematisiert eine mögliche Anfechtung und Eskalation des Amtsinhabers auch öffentlich. „Sollte sich Erdoğan nach einer Niederlage nicht zurückziehen, würde es zu großen gesellschaftlichen Zerwürfnissen kommen“, sagt Güngör.
Militär entmachtet
Gegen zwei Szenarien hat sich der türkische Langzeitherrscher schon präventiv gerüstet. Korruptionsprozesse, wie die Opposition sie gegen ihn führen will, werden für Kılıçdaroğlus Sechs-Parteien-Bündnis vorerst schwierig – im Parlament bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit, um ihn als Ex-Präsidenten vor Gericht zu stellen. Und auch eine Einmischung des Militärs – wie es die Türkei schon mehrfach erlebt hat (sh. Infokasten) – hat er selbst sehr unwahrscheinlich gemacht: Spätestens seit dem Putschversuch 2016 hat er alles daran gesetzt, die früher gefürchteten Streitkräfte zu entmachten. Er hat nicht nur die Führungsränge gesäubert und hunderte Soldaten ins Gefängnis verfrachtet, sondern die Armee mit AKP-Leuten „durchtränkt“, sagt Güngör. Bemerkt hat man diesen Machtverlust zuletzt beim Erdbeben: Da war das Militär als Krisenhelfer kaum präsent.
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