Türkische Politik, eine reine Männersache
Etliche Male wurde Yağmur Yurtsever bereits auf die Polizeistation mitgenommen, zweimal landete sie für mehrere Tage im Gefängnis. Schockieren tue sie das längst nicht mehr, die zierliche 28-Jährige nimmt einen Zug von ihrer Zigarette: "In der Türkei muss man bereit sein, für seine Werte verhaftet zu werden."
Yurtsever ist Mitglied der DEM-Partei, die aus der linksgerichteten, prokurdischen HDP hervorgegangen ist, nachdem diese mit einem Parteiverbot bedroht worden war. Der Partei wird ebenso wie ihrer Vorgängerin vorgeworfen, der militanten kurdischen Untergrundorganisation PKK nahezustehen. Regelmäßig kommt es zu Razzien und Verhaftungen von Parteimitgliedern.
Yurtsever, könnte man sagen, kämpft einen doppelten Kampf: Einmal als Mitglied einer von der Regierung verhassten Partei – und einmal als Frau in einer teils sehr patriarchalen und konservativen Gesellschaft.
Bei den anstehenden Kommunalwahlen geht die Soziologin als Co-Spitzenkandidatin der DEM-Partei im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş ins Rennen. Die Partei hat überall, wo sie antritt, eine Doppelspitze gekürt, "die aus mindestens einer Frau bestehen muss. Damit sind wir einzigartig, nicht nur in der Türkei." In Yurtsevers Stimme schwingt Stolz mit.
Denn auf den Straßen Istanbuls zeigt sich: Politik ist Männersache in der Türkei. Überdimensional blicken die Kandidaten (gendern ist in diesem Fall überflüssig) von Plakaten und Fahnen herab, die an Hauswände geklebt und über Straßen gespannt sind. Geschlechter- und Quotendebatten? Gibt es nicht.
Die Türkei hält am 31. März Kommunalwahlen ab. Besonderer Fokus liegt auf der Finanzmetropole Istanbul: Hier regiert seit 2019 Ekrem İmamoğlu von der größten Oppositionspartei CHP. Er gilt zudem als Hoffnungsträger, Präsident Erdoğan bei der nächsten regulären Präsidentschaftswahl 2028 zu besiegen. Seinen Wahlsieg 2019 ließ Erdoğan erst annulieren, bei der Wahlwiederholung gewann er mit 800.000 Stimmen Vorsprung. Seine Wiederwahl wird diesmal jedoch durch die Aufstellung eigener Kandidaten der anderen Oppositionsparteien erschwert: 2019 hatte er dank eines parteiübergreifenden Bündnisse gewonnen.
64 Millionen Menschen in der Türkei sind am 31. März wahlberechtigt.
Dabei kam Frauen in der türkischen Politik eigentlich schon früh eine wichtige Rolle zu: 1934, früher als in Frankreich oder in der Schweiz, erhielten Frauen das Wahlrecht und durften selbst kandidieren. 1993 gab es mit Tansu Çiller eine zwar sehr konservative, aber weibliche Ministerpräsidentin. Auch waren es die weiblichen Wähler, denen Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinen Aufstieg zu verdanken hat: Er gab Kopftuch tragenden Frauen den öffentlichen Raum zurück.
Unterrepräsentiert
Doch heute sind Frauen in der politischen Landschaft kaum vertreten. Stolz ist man auf den aktuell höchsten Frauenanteil im nationalen Parlament in der Geschichte der modernen Türkei: 20,1 Prozent. Bei den anstehenden Kommunalwahlen beträgt der Anteil der weiblichen Kandidaten lediglich 11,5 Prozent. Nur 27 der 1.211 von Erdoğans islamisch-konservativer AKP vorgeschlagenen Kandidaten sind Frauen. Selbst in der kemalistischen-sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP sind nur 103 der 1.112 Kandidaten weiblich.
Ein Vorwurf, den Frauenrechtlerinnen regelmäßig gegenüber allen Parteien erheben: Dass in Partei-Hochburgen und farbentreuen Städten und Bezirken eher Männer als Frauen zur Wahl antreten. Weibliche Kandidaten werden in eher weniger aussichtsreichen Regionen aufgestellt. Damit ist auch die Erfolgsquote von ihnen weitaus geringer als die ihrer männlichen Parteikollegen.
Männer dominieren den Wahlkampf: Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu...
... und der AKP-Gegner Murat Kurum.
Islamische Rhetorik
Repräsentation sei ein großes Problem, sagt der österreichisch-türkische Politologe Vahap Polat. Er glaubt kaum an Besserung in naher Zukunft: "Ultrareligiöse Gruppierungen erhalten starken Zulauf in der Türkei. Daran trägt auch Erdoğans islamische und radikalisierende Rhetorik Schuld. Er treibt sie in die Arme der Radikalen, die ihn unterstützen." Die Partei Hüda Par, der eine Nähe zur zerschlagenen islamistischen türkischen Hisbollah nachgesagt wird, propagiert etwa, Frauen nur jene Arbeit zu erlauben, die ihrer "Natur" entsprächen. Bei den Wahlen im Vorjahr war die Kandidatin der islamistischen Yeniden Refah auf Wahlplakaten nur als Schatten zu sehen.
Die 28-jährige Yurtsever weiß, dass ihre Partei, obwohl die drittgrößte in der Türkei, kaum Chancen auf große Siege hat. Sie winkt ab: "Wir haben einen weitaus größeren Effekt: Wir werfen die Debatte auf, wem die türkische Politik eigentlich gehört." Natürlich, gesteht Yurtsever ein, mache ihr der politische Kampf auch oft zu schaffen. Doch dann sei es ausgerechnet die Frauenbewegung, die ihr die Kraft gebe, weiterzumachen: "Ihre Stärke heilt mich stets aufs Neue."
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