100 Jahre Türkei: Wie Erdoğan das Erbe Atatürks für sich nutzt

Atatürk ruht auf einem grünen Hügel mitten in Ankara, sein Mausoleum erhebt sich imposant über der Hauptstadt. Recep Tayyip Erdoğan wird hier am Sonntag einen Kranz niederlegen. "Dabei hält er eigentlich nicht viel von Atatürk. Für ihn ist er ein Trinker, der die falschen Werte vertrat", vermutet der bulgarische Politologe Dimitar Bechev. Bei den Festlichkeiten wird im Rahmen einer "Recep Tayyip Erdoğan Sonderausstellung" mehr der Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre gedacht, weniger dem Republikgründer. "Der wäre sehr unzufrieden, würde er sehen, was aus der Türkei geworden ist."
Die Verehrung Atatürks ist auch nach 100 Jahren ungebrochen. Sein Porträt hängt in Schulen, ziert Geldscheine und Fahnen. So fern die beiden einander ideologisch sind – Präsident Erdoğan sieht sich heute in einer Reihe mit dem Republikgründer und hat sich dessen Personenkult längst zu eigen gemacht.
Kemal Atatürk ist der Begründer und erste Präsident (1923–1938) der Republik Türkei und der Gründer der kemalistischen, sozialdemokratischen CHP. Geboren als Mustafa Kemal Pascha 1881 im heute griechischen Thessaloniki, wurde er Offizier und Mitglied der "Jungtürken", einer nationalistischen Bewegung, die eine westliche Modernisierung nach dem Ende des Osmanischen Reichs (1922) anstrebte.
Der radikale Reformator führte unter anderem ein, dass jeder türkische Bürger einen Nachnamen tragen sollte. Er selbst ließ sich 1934 vom Parlament den Namen Atatürk geben – "Vater der Türken". Er starb am 10. November 1938 um 9:05 Uhr – noch heute steht zu seiner Todeszeit die ganze Türkei eine Minute lang still.
Der Traum von einer säkularen Türkei
Als Mustafa Kemal Pascha am 29. Oktober 1923 nach einem Sieg gegen die Griechen und dem Rückgewinn kurzzeitig verlorener Gebiete die Republik ausrief, träumte er von einer modernen, westlich-orientierten Türkei. Er führte die Trennung von Staat und Religion ein, setzte die Moscheen unter die Verwaltung des Staates, Imame wurden zu Beamten. Der arabische Fes, die traditionelle Kopfbedeckung, wurde Männern genauso verboten wie Frauen das Kopftuch in öffentlichen Gebäuden. An die Stelle religiöser Feiertage traten neue republikanische. Er setzte Gewicht- und Längenmaße aus Europa durch, den gregorianischen Kalender, das lateinische Alphabet ein.
Vieles davon hat Erdoğan, als er an die Macht kam, rückgängig gemacht. Er holte den Islam zurück in die Politik, hob das Kopftuchverbot auf, machte aus Atatürks Museum in der monumentalen Hagia Sophia ein Gebetshaus. Er lässt Moscheen bauen und preist die Osmanen, die Atatürk als rückständig erachtete.
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Atatürk gilt als der "Weiße Türke" aus der säkularen Elite; Erdoğan ist der islamische Aufsteiger aus dem Armenviertel. Heute nutzt er den Kult um Atatürk für sein eigenes Narrativ.
Erdoğan will die Türkei an der Spitze der islamischen Welt. "Er ist ein Populist, der sich als Vertreter jener konservativen, armen Bevölkerung sieht, die von Atatürks Reformen überrumpelt wurde", sagt Bechev, der in seinem Buch "Die Türkei unter Erdoğan" das autoritäre Erbe der Türkei seit der Staatsgründung untersucht. Für ihn ist Erdoğan "ein Produkt Atatürks Versuchs der radikalen Modernisierung der Türkei".
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Und doch gibt es Ähnlichkeiten zwischen den beiden mächtigsten Staatsoberhäuptern der modernen Türkei. Wie Erdoğan regierte auch Atatürk autoritär, vereinte alle Staatsmacht auf sich. Beide teilen die Vorstellung eines türkischen Nationalismus, der keinen Platz für andere Ethnien und Religionen lässt – ganz im Gegensatz zum einst multiethnischen Osmanischen Reich. Atatürks Säkularismus war nur umzusetzen, weil er zuvor Kurden, Griechen und Armenier aus dem Land getrieben hatte. 100 Jahre später haben Minderheiten in der Türkei nach wie vor wenig Rechte.

Wahlkampf 2023: Auch die Opposition nutzt den Personenkult Atatürks für sich. Aus seiner Partei entstand die heutige CHP.
Der "Anti-Atatürk-Atatürk"
Für viele ist Erdoğan der "Anti-Atatürk-Atatürk". So sieht sich wohl auch der Präsident selbst: "Erdoğan hat sich den Kult um Atatürk angeeignet. Die AKP nutzt und betont seine Führungsstärke, die Wiederherstellung der starken, souveränen Türkei – sehr zum Ärger der Säkularisten und der oppositionellen CHP, die aus Atatürks Erbe entstanden ist", sagt Bechev.
Atatürk starb im Alter von 57 Jahren an den Folgen seines exzessiven Alkoholkonsums – 100 Jahre später versucht Erdoğan, alkoholische Getränke durch Steuern und Verbote aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Auch wegen seines plötzlichen Todes lebt Atatürks Mythos weiter.
Der 69-jährige Erdoğan hingegen steht – trotz der geopolitischen Machtposition, zu der er der Türkei verholfen hat – nach 20 Jahren an der Macht vor enormen Herausforderungen: eine marode Wirtschaft, eine polarisierte Gesellschaft, ein immer wieder aufflammender Krieg im Nordosten Syriens. Er muss aufpassen, sein Erbe nicht zu beschädigen.
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1923 Bevölkerungsaustausch mit Griechenland, im Vertrag von Lausanne erhält die Türkei ihr heutiges Staatsgebiet. Am 29. Oktober wird die Republik gegründet.
1950 Ende der Einparteienherrschaft der CHP: Die weniger säkulare Demokratische Partei (DP) gewinnt die Wahlen.
1960 Das Militär, "Hüter der säkularen Ordnung", putscht gegen die Regierung. Auch 1971 und 1980 übernimmt das Militär, regiert mehrere Jahre lang.
1997 Das Militär drängt Präsident Erbakan zum Rücktritt. Aus seiner islamistischen Bewegung entsteht Erdoğans AKP.
2003 Erdoğan wird Ministerpräsident, 2014 dann Präsident.
2016 Ein Putschversuch des Militärs scheitert. Erdoğan ruft den Notstand aus, es kommt zu Massenverhaftungen.
2017 Mit knapper Mehrheit stimmt das Volk für eine Verfassungsänderung, die das parlamentarische durch das präsidentielle Regierungssystem ersetzt.
2019 Kommunalwahlen: Die AKP verliert Istanbul an die CHP.
2023 Im Mai wird Erdoğan als Präsident wiedergewählt.
2024 Erdoğan strebt eine Verfassungsänderung an. Bei den Kommunalwahlen will die AKP Istanbul zurückgewinnen.
Exkurs: Neo-Sultan, Vermittler, Feldherr: Die vielen Rollen Erdoğans im Ausland
"Atatürk ging es um innenpolitische Modernisierung und Entwicklung. Erdoğan konzentriert sich auf die geopolitische Bedeutung der Türkei", sagt Bechev. Damit nährt er auch das türkische Selbstbewusstsein und seine Popularität. Sein außenpolitischer Kurs wird oft als "neo-osmanisch" bezeichnet: Erdoğan versucht, den türkischen Einfluss auf ehemalige Gebiete des Osmanischen Reichs auszudehnen – von Nordafrika über den Kaukasus bis in den Nahen Osten. Und das in Form von Waffenexporten, politischer oder humanitärer Unterstützung bis hin zu wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen.
Gleichzeitig gibt sich der türkische Präsident gern als Mediator: Zwischen der Ukraine und Russland vermittelte er im Getreideabkommen. Bis vor Kurzem wurde er auch als möglicher Vermittler zwischen Israel und der Hamas gehandelt – bis Erdoğan die Hamas als "Befreiungsorganisation", Israel als "Besetzungsmacht" bezeichnete. Am Samstag rief er seine Anhänger zu einer Solidaritäts-Demo mit Palästina auf, Hunderttausende folgten ihm. Israel rief daraufhin seine diplomatischen Vertreter aus der Türkei zurück. Eine Vermittlung durch die Türkei ist daher vom Tisch.
Seinen eigenen Krieg führt Erdoğan im Nordosten Syriens gegen die Kurdenmilizen YPG und die PKK. Ankara bekämpft dort die Autonomie der Kurden. Im Schatten der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten bombardierte die Türkei in den vergangenen Wochen das Gebiet. Auslöser dafür war für Ankara ein Anschlag in der türkischen Hauptstadt Anfang Oktober von zwei mutmaßlichen PKK-Anhängern.
Wie verheerend das Bombardement war, ist kaum zu überprüfen. Zwischen 5. und 9. Oktober soll Ankara 580 Luft- und Bodenangriffe durchgeführt haben, laut Berichten könnten 80 Prozent der Infrastruktur des Gebiets zerstört worden sein. Die Zahl der Toten schwankt zwischen 20 und 58. In drei Bodenoffensiven seit 2016 hat die türkische Armee Teile Nordost-Syriens besetzt. Sollte Erdoğan die Situation als günstig einschätzen, könnte es bald eine neue geben.
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