Erdbeben-Katastrophe in der Türkei: Wie die Region zu vergessen versucht
Suna richtet ihrer Mutter das Kopftuch, bevor sie weiterspricht: "Wo sollen wir arbeiten, wie sollen wir Geld verdienen?" Sie zeigt auf das weiße Zelt hinter dem maroden Haus: Dort schläft die 18-Jährige mit ihrer Familie – zu groß ist die Angst, dass das Haus eines Nachts doch noch zusammenklappen könnte. So geschehen erst vor wenigen Tagen, in Bozova in der Nachbarprovinz Şanlıurfa. Zwei Menschen starben.
Am 6. Februar 2023 wurden der Südosten der Türkei und Nordsyrien von einem der schlimmsten Erdbeben in der Geschichte erschüttert. Die Katastrophe forderte über 60.000 Tote, 53.000 in der Türkei; Hunderttausende verloren ihr Zuhause.
Die Vorwürfe gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan wogen schwer: Rettung sei zu spät gekommen, das Krisenmanagement habe versagt, und überdies sollen der Bau-Boom der letzten beiden Dekaden, Korruption und das Umgehen von Bauvorschriften verantwortlich dafür gewesen sein dafür, dass Häuser teils wie Pappkarton zusammenklappten. Innerhalb eines Jahres, versprach Erdoğan wenig später im Wahlkampf des Vorjahres, sollen über 300.000 Wohngebäude errichtet werden.
Ein Versprechen, das er wohl nicht halten kann.
Fehlende Selbstkritik
In Nurdağı, wo Suna wohnt, eine Stadt in der Provinz Gaziantep, sind die Spuren des Bebens nach wie vor allgegenwärtig: Schutthaufen reihen sich aneinander, Bagger schaufeln sich durch das Geröll. Die 20-jährige Selen lebt mit ihrer Familie in einem der Hunderttausenden Container, die nach dem Beben als vorübergehende Unterkünfte errichtet wurden. "Unser Haus ist einfach zusammengeklappt", erzählt sie. Wann sie wieder in einem Haus leben würden, weiß sie nicht. Lieber träumt sie davon, Jus in Ankara zu studieren und Gaziantep hinter sich zu lassen.
Über 850.000 Gebäude sind durch das Beben eingestürzt oder wurden so stark beschädigt, dass sie abgerissen werden mussten. Selbstkritik sucht man bei den Regierenden vergebens. "Gaziantep soll vergessen", sagt der AKP-Gouverneur der Provinz, Valisi Kemal Çeber, bei einem Besuch in Gaziantep-Stadt. Die ist vom Erdbeben nahezu verschont geblieben – vereinzelt entdeckt man freie Flächen voller Gesteinsmassen zwischen Baklava- und Blumenläden. Nur die Festung hoch über der Stadt ist von einem Baugerüst eingezäunt, Steine sind aus der Mauer gebrochen.
Man wolle das Beben so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis der Menschen streichen, sagt der Gouverneur. 51 Milliarden türkische Lira (1,5 Mrd. Euro) stecke man in den Wiederaufbau der elf betroffenen Provinzen. Keine Kompromisse, was die Sicherheit angeht: Man würde sich beim Wiederaufbau an die seismischen Analysen halten, Gebäude mit maximal vier Stockwerken bauen.
Die neuen, noch unbewohnten 17 Wohnblöcke ein paar Kilometer entfernt, auf denen das überdimensionale Konterfei Erdoğans hängt, haben dann aber doch sechs Stockwerke. Das Fundament sei besonders stark, das halte das aus, heißt es. Gebaut wurden die Wohnblöcke von dem staatlichen Bauunternehmen TOKI, dessen Häuser alle das Erdbeben überstanden hätten, so die Regierung.
Eine Container-Stadt in Nurdağı in der Provinz Gaziantep.
Suna und ihre Mutter schlafen nach wie vor lieber im Zelt als im Haus.
Neue Wohnblöcke warten auf ihre Eröffnung durch Präsident Erdoğan.
"Jeder, der ein Haus verloren hat, wird ein neues bekommen", verspricht der Provinz-Verantwortliche. Davon ist man allerdings noch weit entfernt: In allen 11 Provinzen sollen demnächst gerade mal 46.000 Wohnungen einzugsbereit sein. Erdoğan, der am Samstag ein neu gebautes Krankenhaus in Hatay eröffnete, besucht am Sonntag Gaziantep und soll die Wohnungen übergeben. Zwei Wochen später sollen die ersten Familien einziehen können.
Nur: Die Kosten muss jede selbst stemmen. Die Regierung vergibt Zuschüsse von 750.000 Lira (23.000 Euro) und einen ebenso hohen Kredit mit niedrigen Zinsen. Wie viel die Wohnungen kosten, sagt man nicht. Für einige jener Hunderttausenden, die in den Containern leben, weil sie nirgendwo anders hinkonnten, dürften sie dennoch nicht leistbar sein.
Dennoch: Gaziantep werde sich erholen, sagen selbst auch regierungskritische Stimmen, die Region zählte vor dem Beben zu einer der wirtschaftlich stärksten der Türkei. Gaziantep hat Pistazien, Paprika und Industrie – von Zementfabriken über Seidenwebereien. Schwieriger sei es für die Provinz Hatay, der am stärksten vom Beben betroffenen Region. Die Hälfte aller Toten und ein Viertel aller zerstörten Häuser wurde hier gezählt. Der Tourismus, der hier vor dem Beben blühte, ist zum Erliegen gekommen.
Am 6. Februar 2023 erschütterten Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und den Norden Syriens, eine Region so groß wie Deutschland. Der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD zufolge leben noch immer 670.000 Menschen in Containern. UN-Schätzungen zufolge sind bis zu 210 Millionen Tonnen Schutt entstanden. Der gesamtwirtschaftliche Schaden wird auf über 100 Milliarden US-Dollar geschätzt – etwa neun Prozent des türkischen BIP 2023.
14 Millionen Menschen waren in der Türkei vom Erdbeben betroffen. Genaue Angaben zur Lage in Syrien sind kaum zu treffen: Laut UN waren 8,8, Millionen Menschen von dem Beben betroffen. Die meisten würden nach wie vor in Zelten oder Häuserruinen leben. Bereits vor dem Beben waren 80 Prozent der Menschen in Nordwestsyrien aufgrund des Bürgerkriegs auf humanitäre Hilfe angewiesen.
100.000 Lira für ein Leben
Im Hafen von Iskenderun in der Provinz Hatay liegt ein riesiges Schiff, das als vorübergehendes Wohnhaus für 1.000 Menschen und Schule dient. Das Stadtbild prägen Skelette zerstörter Häuser und Containersiedlungen.
Sultani lebt mit ihrem Enkelsohn in so einem geschätzt 30 Quadratmeter großen Container. Ihre restliche Familie ist beim Beben ums Leben gekommen. Sie selbst erlitt kurz nach dem Beben einen Herzinfarkt. Die 67-Jährige ist komplett schwarz gekleidet, ein Beinstumpf ragt unter ihrem Rock hervor: Ihr Fuß musste amputiert werden, nachdem er unter herabstürzenden Mauerteilen zerquetscht wurde. "Wir nehmen, was uns die Regierung gibt. Ich danke Allah, dass wir nicht auf der Straße schlafen müssen", sagt sie. Ihre Augen werden feucht. 100.000 Lira (3.000 Euro) hat der Staat neben anderen Unterstützungszahlungen nach eigenen Angaben den Angehörigen eines toten Familienmitglieds gezahlt.
In den vergangenen Wochen haben erste Prozesse gegen die vermeintlich Schuldigen am Einsturz der Häuser gestartet. Vor Gericht stehen Architekten, Bauträger und Bauarbeiter. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisiert, dass kein politischer Verantwortlicher angeklagt sei.
Es gibt keine Zahlen, wie viele Menschen am Jahrestag des Erdbebens wieder ein festes Dach über dem Kopf haben werden. Im März finden in der Türkei Lokalwahlen statt. Dass Erdoğan seine hiesige Popularität – die Erdbebenprovinzen gelten als AKP-Hochburgen – bei der Präsidentschaftswahl im Vorjahr verteidigen konnte, erklärten sich Beobachter mit seiner Zusage eines raschen Wiederaufbaus.
Ob sich das Brechen des Versprechens negativ auf die Lokalwahlen auswirkt oder die Menschen lieber vergessen, wird sich zeigen.
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