Sechs Monate nach Beben: "Wer jetzt da ist, konnte nirgendwo anders hin"

Samandag in der Provinz Hatay Ende Juli: Hunderttausende Gebäude wurden zerstört. Dass der Wiederaufbau in einem Jahr gelingt, wie Erdoğan prophezeit, ist unwahrscheinlich.
81 Stunden lag Elçin Ezel unter ihrem eingestürzten Haus. Dreieinhalb Tage lang. Dass die Zeit verging, merkte sie nur an den Muezzin-Rufen, die bis unter die Trümmer in die Dunkelheit drangen. Im Arm hielt sie ihre achtjährige Tochter, spürte, wie diese wenige Stunden nach dem Erdbeben starb. Nach ihrer Bergung erfuhr sie, dass auch ihr 14-jähriger Sohn und ihre Mutter nicht überlebt hatten.
Knapp 90 Sekunden dauerte das verheerende Beben, das den Süden der Türkei und den Nordwesten Syriens am 6. Februar dieses Jahres erschütterte. Für die Menschen, die dabei alles verloren haben, dauert die Katastrophe immer noch an: "Der Wiederaufbau ist in Gange, überall sieht man Bagger und Kräne", schildert Sarah Easter von der Hilfsorganisation CARE, die gerade in der schwer betroffenen Provinz Hatay war, dem KURIER.
Doch es dauere, und die psychologischen Folgen ließen sich nicht mit einem Dach über dem Kopf reparieren: "Für Elçin ist das Beben nicht vorbei." Auch weil die Erde in der Region nach wie vor regelmäßig nachbebt – nicht sehr stark, aber spürbar.
Basics fehlen nach wie vor
Heute lebt Elçin in einem kleinen weißen Container, nebenan sind reihenweise Zelte aufgestellt – rund drei Millionen Menschen leben in den provisorischen Unterkünften, seit Monaten. Nach wie vor arbeiten die Hilfsorganisationen daran, die Grundbedürfnisse zu decken, stellen Lebensmittel und Trinkwasser bereit, richten Latrinen und Schlafplätze ein.
Die unzähligen Kinder, die in den Zeltstädten leben, waren seit einem halben Jahr nicht in der Schule. Es gibt keine Kindergärten, keine Arztpraxen, keine Geschäfte, nichts. Nur Schutt und Trümmer. "Wer jetzt noch da ist, konnte nirgendwo anders hin", sagt Easter.
➤ Mehr dazu: Der Trauer über das Beben folgt die Wut – und das spüren die Helfer

Ein Bagger reißt die Überreste eines beschädigten Gebäudes in der Provinz Hatay ab. Die Kinder, die heute noch dort leben, waren seit Monaten nicht mehr in der Schule.
Geht es nach Präsident Recep Tayyip Erdoğan, soll sich das in den kommenden sechs Monaten ändern. Vor der Parlamentswahl im Mai hatte er versprochen, die zerstörten Häuser in den betroffenen Provinzen innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen. Im Juli sprach er von insgesamt 650.000 Häusern, die man bauen wolle. Die wären dringend nötig: Wenn draußen, so wie im Sommer üblich, Temperaturen von teils über 40 Grad Celsius herrschen, ist es in den Zelten kaum aushaltbar. Gleichzeitig fürchten die Menschen bereits die kalten und schneereichen Monate. Winterfest sind die Zelte nicht.
Bürokratie behindert Aufbau
Ebru Özdemir vom Polit-Think Tank Spectrum House hält es für unwahrscheinlich, dass Erdoğan sein Versprechen hält. Bisher seien gerade einmal 140.000 Gebäude im Entstehen. Behindert werde ein rascher Aufbau auch durch die in der Türkei vorherrschenden Zentralisierung, der schon kurz nach dem Beben vorgeworfen wurde, Hilfe zu verzögern: "Jede Entscheidung muss über Ankara gehen, jedes Bauprojekt von ganz oben bewilligt werden. Die Regierung will alles kontrollieren."
➤ Mehr dazu: War die Türkei schlecht auf das Erdbeben vorbereitet?

Dreieinhalb Tage lag Elçin Ezel unter den Trümmern, verlor Mutter und Kinder. Das Abbild ihrer Kinder hat sie sich auf den Unterarm tätowiert.
Am 6. Februar erschütterten zwei Beben der Stärke 7,8 und 7,5 den Süden der Türkei und den Nordwesten Syriens. Fast 60.000 Menschen starben, 51.000 in der Türkei, Millionen waren betroffen. 311.000 Gebäude, darunter 872.000 Wohnungen, wurden laut Nachrichtenagentur Anadolu beschädigt oder zerstört.
Nach dem Beben wurde Kritik an der türkischen Regierung laut: Sie soll bei der Erdbebensicherheit der Gebäude gespart und Sicherheitsvorschriften missachtet haben.
Die Regierung schätzt die Folgekosten des Bebens auf 104 Milliarden US-Dollar.
Özdemir beklagt auch die Intransparenz bei der Hilfe der Regierung: "Wir wissen nicht, ob die Gebäude, die jetzt aufgebaut werden, den Sicherheitsvorschriften entsprechen." Nach dem Beben wurde der Regierung Mitschuld an der Zerstörung gegeben: Sicherheitsvorschriften sollen jahrzehntelang missachtet, Geld aus der Erdbebensteuer abgezweigt worden sein. Später gab die Regierung sogar zu, das Geld für andere politische Projekte genützt zu haben.
Weder der Missbrauch der Gelder noch das Missmanagement hatten, anders als von Regierungskritikern und Oppositionellen vermutet, Erdoğan bei den Wahlen Stimmen gekostet: In der Mehrheit der vom Erdbeben betroffenen Regionen, zum Teil traditionelle AKP-Hochburgen, siegte der amtierende Präsident. Die Menschen hätten kein Vertrauen gehabt in das heterogene Oppositionsbündnis, so Özdemir.
Sie beklagt, dass die Parteien nach der Wahlniederlage mit Streitigkeiten und Schuldzuweisungen beschäftigt seien, anstatt im Parlament die Regierung auf ihre Fehler hinzuweisen: "Sie lassen zu, dass die Menschen im Erdbebengebiet vergessen werden."
Elçin hingegen vergisst nicht, wird sie wohl nie. Das Abbild ihrer Kinder ziert mittlerweile ihren rechten Unterarm – in Form eines Tattoos.
Kommentare