Der Trauer über das Beben folgt die Wut – und das spüren die Helfer

25.000 Tote. Das sind mehr Menschen als in Krems an der Donau leben. Oder in Wolfsberg.
25.000, das ist die Anzahl jener Menschen, die tot aus den Trümmern, die das Beben in der Türkei und Syrien hinterlassen hat, geborgen wurden. Wie viele noch unter den Steinen liegen, ist noch nicht einmal abschätzbar.
"Aggressionen"
Dass in vielen Orten die Hilfe spät, manchmal zu spät angekommen ist, lässt die Trauer der Menschen nun in Wut umschlagen. Das wiederum bekommen die Helfer vor Ort zu spüren. Das österreichische Bundesheer, das seit Dienstag mit 82 Personen vor Ort hilft, hat seinen Einsatz darum am Samstag kurzfristig sogar unterbrochen. Es gebe zunehmend „Aggressionen“, auch „Schüsse sollen gefallen sein“, ließ ein Sprecher wissen. Ähnliches hört man auch von der deutschen Organisation International Search and Rescue (I.S.A.R.): „Unsere Einsatzkräfte haben sich in das Basislager in der Stadt Kirikhan zurückgezogen, weil es in der Region zu Auseinandersetzungen gekommen ist“, sagt ein Sprecher zum KURIER.
Direkt attackiert worden sei – wie beim Bundesheer und beim deutschen Technischen Hilfswerk (THW), das den Einsatz auch unterbrochen hat – aber niemand. Der Rückzug sei eine Vorsichtsmaßnahme gewesen, man habe die Information über die unsichere Lage von den türkischen Sicherheitsbehörden bekommen. Laut THW seien die Verknappung von Lebensmitteln und die schwierige Wasserversorgung im Erdbebengebiet Gründe für Tumulte.
Ausnahmezustand
Die Einsatzgruppe des österreichischen Heeres konnte ihre Arbeit am Nachmittag wieder aufnehmen, allerdings unter dem Schutz der türkischen Armee. Präsident Erdoğan hat schon vor Tagen in den betroffenen zehn Regionen den Ausnahmezustand verhängen lassen, schon damals mit dem Argument, man wolle „Provokateure“ in die Schranken weisen und Plünderungen verhindern. In den türkischen Medien und auch in den sozialen Netzwerken finden sich bisher allerdings kaum Berichte über derartige Vorfälle.
Der KURIER hat sich in der Krisenregion umgehört und nachgefragt, wie es den Helfern und Helferinnen vor Ort geht - drei Einsatzkräfte erzählen hier von ihrem Alltag.
"Jetzt ist es nicht mal mehr in den Häusern sicher"
Eigentlich sei sie Optimistin, sagt Zina Dayoub. Doch gerade falle es ihr schwerer als je zuvor, nicht die Zuversicht zu verlieren: „Das Erdbeben ist das Schlimmste, was den Menschen jetzt passieren konnte. An den Krieg haben wir uns gewöhnt. Aber jetzt sind wir nicht einmal mehr in unseren Häusern sicher.“
Der KURIER erreicht Dayoub in der mittelsyrischen Stadt Hama. In den frühen Morgenstunden war sie von Damaskus, wo sie eigentlich wohnt, nach Aleppo aufgebrochen, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Dayoub berichtet: von zerstörten Gebäuden, Frauen in Pyjamas, und Kindern, die zwischen den Trümmern Fußball spielen, um sich abzulenken. „Sie besitzen nur mehr das, was sie am Leib trugen, als sie mitten in der Nacht vor dem Beben auf die Straße geflüchtet sind. Und es fehlt an allem: Decken, Medikamenten, Bergungsgeräten, Essen und Trinkwasser. Und Babynahrung.“
Dayoub ist 39 Jahre alt und Archäologin. Besser gesagt, war sie, bis der Krieg in Syrien ausbrach. Dann entschied sie sich, in die humanitäre Hilfe zu wechseln, „weil das gerade mehr gebraucht wurde“. 12 Jahre ist das nun her. Heute arbeitet sie für Caritas Österreich, ist zuständig für die Kommunikation mit den Caritas-Organisationen im Ausland.
Kurz vor dem Telefonat hat wieder ein Nachbeben die Region erschüttert; auch in Hama, wo Dayoubs Familie lebt, war es spürbar. „Alle haben Angst, auch ich“, gesteht sie. Hama gehört zu jenen Regionen, die unter Kontrolle des Regimes von Präsident Baschar al-Assad steht. Wie es den Menschen in Idlib geht, einer der am schwersten betroffenen Regionen Syriens, weiß sie aber nicht. Das Gebiet wird von Rebellen und Islamisten kontrolliert. „Niemand hat Kontakt dorthin, wir können auch keine Hilfe dorthin bringen“, erzählt sie.
Neben Trauer, Angst und Hoffnungslosigkeit verspürt Dayoub auch Wut – darüber, wie lange nicht nach Syrien geblickt wurde, über die Isolierung und Sanktionierung des Landes, die die Hilfe erschwere: „Wir leiden schon so lange. Wir sind auch einfach nur Menschen. Wenn ich diese Kinder sehe, frage ich mich, was sie für eine Zukunft haben.“

"Die Menschen warten – auf Hilfe, auf ein Wunder"
Kindergeschrei im Hintergrund. Heinz Wegerer entschuldigt sich: „Ich bin in einem Restaurant untergebracht, das in eine Notschlafstelle verwandelt wurde.“ Das Matratzenlager teilt er sich mit 50 anderen. Zumindest für ihn ist die Unterkunft nur vorübergehend. Am Tisch nebenan sitzen Männer und spielen Karten, erzählt Wegerer: „Den ganzen Tag – und die halbe Nacht. Schlafen können nur die wenigsten.“ Die Frauen versuchen, mit den Nahrungsmitteln, die da sind, zu kochen, bringen Essen nach draußen zu jenen, die nach Verschütteten suchen.
Wegerer, Koordinator für humanitäre Hilfe vom Hilfswerk International, befindet sich in der türkischen Küstenstadt Iskenderun. Von der nach dem Beben aber kaum mehr etwas übrig ist: Die Straßenzüge sind zerstört, die Gebäude kollabiert. „Vor den Trümmerhaufen sitzen Menschen, die sich am Lagerfeuer wärmen“, erzählt Wegerer. „Und warten. Auf Rettung, auf Hilfe, auf ein Wunder.“
Der 34-Jährige kennt die Situation in Katastrophengebieten, war im Jemen, im Irak, in der Ukraine: „Trotzdem ist es schwer, in Worte zu fassen, welches Leid die Menschen hier erfahren mussten. Die Trauer um Angehörige, die Unsicherheit, dass es jeden Tag wieder beben könnte. Und der Schock, wenn man von einem Tag auf den anderen alles verloren hat.“ Wer helfen will, empfiehlt Wegerer, könne das aktuell am besten mit Geldspenden tun: „Damit kann nahe der betroffenen Gebiete eingekauft werden, was akut gebraucht wird. Oft sind das Windeln, Hygieneartikel, Binden.“ Zumindest in der Türkei sei das möglich. „Sachspenden werden am Zoll oft abgefangen.“

"Am schwierigsten ist es, in die Dörfer zu kommen"
Kontakt mit Serkan Eren aufzubauen ist nicht einfach, die Telefonverbindung die meiste Zeit nicht stabil genug. Am Ende stellen sich Sprachnachrichten, die er immer wieder verschickt, wenn er Zeit hat, als beste Lösung heraus.
Seit fünf Tagen ist Eren, der Gründer der deutschen Hilfsorganisation Stelp, in den türkischen Gebieten unterwegs. „Ich bin Montag nach Istanbul geflogen. Eigentlich wollte ich direkt nach Adana, aber alle Flüge wurden gestrichen. Also musste ich dann von Istanbul 12 Stunden mit dem Auto weither fahren“, so Eren.
Wie lange er noch bleiben wird? „Das entscheidet sich eigentlich jeden Tag aufs Neue. Gerade weiß ich es nicht. Ich würde gerne weiter nach Syrien und dort helfen. Derzeit warte ich aber noch auf die Genehmigung für einen Grenzübergang.“
In Pazarzik, Osmaniye sowie Antakya und Hatay hat er bisher Hilfe leisten können – alles Regionen, die zu den von den Erdbeben am härtesten betroffen Gebieten der Türkei zählen. „Am schwierigsten ist es derzeit, in die Dörfer zu kommen. Die Städte sind mittlerweile recht gut versorgt, aber außerhalb brauchen auch noch sehr viele Menschen Hilfe“, erklärt der Helfer.
Decken werden derzeit am meisten gebraucht, erzählt er. „Tagsüber, wenn die Sonne da ist, geht es so halbwegs, aber in der Nacht ist es wirklich eiskalt“, sagt Eren. Auch Kleidung und vor allem Unterwäsche seien dringend notwendig. „Menschen tragen hier teilweise seit Tagen dasselbe. Auch ich habe seit fünf Tagen nicht geduscht“, schildert der Helfer die Situation Ort

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