Wie Orbán Ungarns Wirtschaft für den eigenen Machterhalt nutzt
Kaum ein Budapester Türeingang kommt mehr ohne sie aus: Die kleinen, schwarzen Schlüsselkästchen haben längst die Hauswände der ungarischen Hauptstadt erobert, sich erfolgreich neben das Klingelschild gezwängt. Sie sind ein Symbol für die unzähligen Privatwohnungen, die über Plattformen wie Airbnb kurzzeitig und lukrativ an Touristen vermietet werden, jedoch den Wohnungsmarkt verknappen und die Preise in Budapest enorm in die Höhe treiben. Die Regierung will deswegen die Abgabe solcher Vermietungen von 38.400 Forint auf 150.000 Forint (370 Euro) pro Monat vervierfachen.
Doch die Wohnungskrise und die Unzufriedenheit der Budapester ist für viele nur ein vorgeschobener Grund für die nächste Steuererhöhung. Der ungarischen Regierung fehlt es an Geld. Wie viel, lässt sich aufgrund der Intransparenz der Daten nicht genau sagen. Doch die wirtschaftliche Lage ist miserabel.
Wenig Konsum, große Unsicherheit
Zwar ist die Zeit, als Ungarn die höchste Inflationsrate in der EU verzeichnete (Jänner 2023: 26 Prozent), vorbei, im September betrug die Inflationsrate drei Prozent, doch die Unsicherheit ist geblieben. Die Bevölkerung konsumiert wenig, Unternehmen halten sich aus Angst vor willkürlichen Abgaben mit Investitionen zurück; Wachstumsprognosen werden weiter und weiter nach unten geschraubt.
"Natürlich spielt auch die schlechte wirtschaftliche Lage in Ungarns unmittelbarer Nachbarschaft eine Rolle, etwa dass auch wichtige Export-Länder wie Deutschland, Österreich und Italien gerade nicht besonders stark wachsen", sagt der Ökonom Sandor Richter vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) zum KURIER. Darüber hinaus hat die Regierung des rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán – nicht ohne heftige Kritik – in den vergangenen Jahren vor allem auf die ressourcenintensive Batterieindustrie gesetzt, doch die globale Nachfrage nach E-Autos erlebt gerade einen Dämpfer. "Diese einseitige Spezialisierung fordert jetzt einen hohen Preis", so Richter.
Im Konflikt mit Brüssel
Doch zu einem großen Teil ist die miserable Lage auch selbstverschuldet. Da sind einerseits die politischen Konflikte mit der EU. Die von Brüssel wegen Defizite in der Rechtsstaatlichkeit zurückgehaltenen Gelder haben den Staatshaushalt nachhaltig geschwächt. Wegen Nichtumsetzung des EU-Asylrechts wurde im Juni gegen Ungarn eine Strafzahlung über 200 Millionen Euro verhängt, die mit jedem Tag des Verstoßes um eine Million Euro steigt.
Die Gelder zieht die Europäische Kommission von EU-Zahlungen an Budapest ab. Gelder, die Ungarn für öffentliche Investitionen fehlen. "In guten Jahren hat Ungarn ungefähr drei Prozent seines BIP an EU-Geldern bekommen. Das hat sich fast halbiert", so Richter.
Das wiiw schätzt das Wirtschaftswachstum für 2024 in Ungarn auf rund 1,2 Prozent. Zu Jahresbeginn hatte die ungarische Regierung noch von einer Wachstumsrate von 3,6 Prozent gesprochen. Wegen der für 2026 angesetzten Parlamentswahl werden weitere "unverantwortliche" Fiskalausgaben in Form von Wahlgeschenke befürchtet, heißt es im aktuellen Bericht. Die Folgen wären ein Anstieg der Inflation, eine deutliche Schwächung des Forint und eine Verschlechterung der Haushaltslage.
Die Inflationsrate ist seit einem Jahr wieder einstellig, im September 2024 betrug sie drei Prozent.
Die EU hat zuletzt zurückgehaltene EU-Gelder an Ungarn freigegeben. Im Austausch hat Budapest Ukraine-Hilfen nicht länger blockiert. Trotzdem sind nach wie vor rund 20 Milliarden Euro an EU-Fördergeldern für Ungarn gesperrt.
Und dann ist da auch noch der alle Fäden ziehende Ministerpräsident Orbán, der seit Jahren auch die Wirtschaftspolitik des Landes rigoros mitentscheidet. Orbán ordne wirtschaftliche Überlegungen stets aktuellen, kurzfristigen politischen und persönlichen Prioritäten unter, so Kritiker.
Erst Süßes, dann Saures
So lässt sich eine Regierungsperiode Orbáns auch in wirtschaftspolitische Abschnitte unterteilen. "Im Wahljahr floriert die Wirtschaft, die Löhne steigen, die Regierung verteilt Wahlgeschenke", so Richter – und das meist schnell und unüberlegt. In der Vergangenheit wurden etwa Preisdeckel auf Energie, Miete oder Lebensmittel eingeführt, ohne den längerfristigen Folgen dieser Maßnahmen wie Knappheit oder Inflationsanstieg groß Beachtung zu schenken.
Dann folgt der "Katzenjammer", formuliert es Richter, die Inflation zieht an – und die Regierung verkündet Sondersteuern und Abgabenerhöhungen, um wieder Geld in die Staatskasse zu bekommen. Die Maßnahmen haben für den nationalistischen Orbán meist auch eine politische Komponente, wie etwa die Sondersteuer für ausländische Unternehmen, mit der sich Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren in Brüssel eingehandelt hat. Die hat auch der österreichischen Handelskette Spar schwer zu schaffen gemacht.
So miserabel die Lage ist, kaum jemand glaubt an baldige Besserung. Auch weil 2026 die nächsten Parlamentswahlen anstehen. Und obwohl es die Wirtschaftslage nicht erlaubt, dürfte die Regierung für Wahlgeschenke wieder tief in die Staatskasse greifen – vielleicht sogar tiefer als sonst angesichts der Bedrohung durch die erst Anfang des Jahres gegründete Oppositionsbewegung von Péter Magyar.
Gefährliche Opposition
Eine Umfrage des ungarischen Thinktanks 21 Research Centre sieht die Partei des Orbán-Kritikers derzeit sogar vor der Fidesz-Partei (TISZA: 42 Prozent, Fidesz: 40 Prozent). Es ist das erste Mal seit fast zwei Jahrzehnten, dass die Fidesz-Partei von der Opposition in einer Umfrage auf Platz zwei verdrängt wurde. "Nie war die Opposition in den letzten 14 Jahren gefährlicher", so Richter.
In vielen Fragen teilt Magyar Orbáns konservative Ansichten; er punktet vor allem damit, dass er die Vetternwirtschaft und Selbstbereicherung des Ministerpräsidenten ankreidet.
Zuletzt prangerte er ein Geschäft zwischen der Regierung und Orbáns Schwiegersohn Istvan Tiborcz an: Der Staat soll Tiborcz einen Bürokomplex abgekauft haben, der sonst ein Riesen-Verlustgeschäft geworden wäre. Tiborcz gilt heute, neben Orbáns Kindheitsfreund Lőrinc Mészáros, als einer der reichsten Ungarn. "Wie kann Orbán von seinem Schwiegersohn völlig unnötige Bürogebäude für 650 Milliarden Forint kaufen, während die Regierung ein 130-Punkte-Sparprogramm fürs Gesundheitssystem, Bildung und Kultur ankündigt?", prangerte Magyar an.
Eine Frage, die sich immer mehr Ungarn stellen dürften.
Kommentare