Orbán nimmt lieber Strafzahlungen in Millionenhöhe in Kauf, anstatt das EU-Asylsystem umzusetzen, lässt der ungarische EU-Minister János Bóka im Gespräch mit dem KURIER anklingen. Von der angedrohten Klage des SPÖ-Chefs Babler hält er wenig.
Eigentlich hätten die EU-Außenminister für das erste Treffen nach der Sommerpause in der Hauptstadt des EU-Ratsvorsitzenden Ungarn zusammenkommen sollen. Doch als Reaktion auf die außenpolitischen Alleingänge des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der Anfang Juli zum russischen Präsidenten Wladimir Putin nach Moskau gereist war, trafen sich die Minister am Donnerstag in Brüssel. Der ungarische EU-Minister János Bóka hält sich im Gespräch mit dem KURIER mit Kritik an Brüssel überraschend zurück. "Der ungarische Ratsvorsitz arbeitet pragmatisch und professionell – trotz des politischen Lärms."
KURIER:Das Treffen der EU-Außenminister in Budapest wurde boykottiert, fand stattdessen in Brüssel statt. Nächste Woche tagt ein informelles Treffen zu "Allgemeinen Angelegenheiten" in Budapest. Wird Österreich daran teilnehmen?
János Bóka: So wie ich das verstehe, handhabt es die österreichische Regierung so, dass jeder Minister selbst entscheidet, ob er teilnehmen will. EU-Ministerin Karoline Edtstadler hat sich entschieden, an der Tagung teilzunehmen. Sie wird eine der Arbeitsgruppen leiten, die sich mit Wettbewerbsfähigkeit, Forschung und Entwicklung befassen – ein Hauptanliegen des ungarischen EU-Ratsvorsitzes.
Der Boykott ist ein Protest gegen Orbáns Reise zu Putin. Die EU hat im Umgang mit Moskau eine klare Linie. Warum widersetzt sich der ungarische Ministerpräsident dieser regelmäßig?
Der Ministerpräsident besuchte zuerst Kiew, dann Moskau, Peking und die Vereinigten Staaten in seiner Position als Regierungschef von Ungarn. Es handelte sich um bilaterale Besuche. Der Grund war sowohl eine politische als auch moralische Verpflichtung, zu versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen, und das Sterben so schnell wie möglich zu beenden. Die EU sollte ein eigenständiger, strategischer Akteur in diesem Konflikt sein. Dazu ist es wichtig, direkte Kommunikationswege zu allen Beteiligten zu haben.
Der Krieg in der Ukraine ist keine bilaterale, sondern eine geopolitische Frage. Warum sollte Ungarn da etwas ausrichten können?
Ungarn ist ein Nachbarland der Ukraine, mit einer bedeutenden ungarischen Minderheit, die in der Ukraine lebt, und nicht zuletzt von den wirtschaftlichen Auswirkungen besonders betroffen. Daher hat Ungarn ein Recht, sich aktiv an der Suche nach Lösungen zu beteiligen. Für ein souveränes Land ist es völlig legitim, sich an diesem Prozess zu beteiligen und seinem politischen und moralischen Kompass zu folgen.
Sie betonen die ungarische Minderheit in der Ukraine, viele davon sind nach Ungarn geflüchtet. Warum setzt Ungarn diese Flüchtlinge jetzt auf die Straße?
Der Ministerpräsident hat bei seinem Besuch in Kiew zugestimmt, aus dem Staatshaushalt finanzierte Bildungseinrichtungen in ukrainischer Sprache in Budapest bereitzustellen, eine wurde soeben eröffnet. Ungarn erfüllt seine internationalen und europäischen Verpflichtungen gegenüber Ukrainern, die Schutz suchen. Das werden wir auch in Zukunft tun.
Ungarn verstößt gegen das europäische Asylsystem, indem es Migranten den Zugang zu Asylanträgen erschwert. Die EU hat Ungarn deswegen zu Strafzahlungen in der Höhe Hunderter Millionen Euro verklagt.
Die ungarische Regierung hat sich verpflichtet, alle rechtlichen Verpflichtungen der Europäischen Union einzuhalten, und tut dies auch. Die Umsetzung des Gerichtsurteils bringt uns in eine schwierige Lage, weil das europäische Asyl- und Migrationssystem eindeutig nicht funktioniert. Einer der Gründe, warum es noch nicht völlig zusammengebrochen ist, sind die ungarischen Grenzschutzbemühungen. Es braucht eine politische und rechtliche Überarbeitung des europäischen und internationalen Rechtsrahmens für Migration und Asyl, weil er den heutigen Herausforderungen nicht mehr gewachsen ist. Das ist dringender als die Umsetzung dieses Gerichtsurteils.
Entweder wir zahlen die Strafe, oder die Mittel werden von der EU-Finanzhilfe für Ungarn abgezogen.
Geld, das Ungarn gut brauchen und anders einsetzen könnte – etwa für die Bevölkerung statt für Strafzahlungen. Warum setzt Ungarn das EU-Recht also nicht einfach um?
Ja, dieses Geld könnte sinnvoller ausgegeben werden. Aber das ist eine Kosten-Nutzen-Analyse. Wenn wir den Grenzschutz abbauen, die Kontrolle über unsere Grenzen verlieren und nicht mehr in der Lage sind zu entscheiden, wer in unser Gebiet einreist und wer nicht, könnten diese Kosten sehr viel höher sein als die Strafe selbst.
SPÖ-Chef Andreas Babler hat gedroht, Ungarn ebenfalls zu klagen, weil es seine Verpflichtungen im Asylbereich nicht erfüllt.
In Österreich herrscht Wahlkampf. Unter diesem Gesichtspunkt betrachte ich auch diese Aussage. Aber erstens sehe ich nicht, wie eine Klage gegen Ungarn zu einem besser funktionierenden Migrations- und Asylsystem beitragen würde. Und zweitens habe ich Äußerungen von derselben Partei gelesen, die eine Obergrenze für Migranten forderte. Das zeigt, dass sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten stark der Position annähern, die die ungarische Regierung seit 2015 vertritt.
An Ungarns Ratspräsidentschaft gab es bereits im Vorhinein Kritik: Orbán pflegt nach wie vor enge Kontakte nach Moskau, verschleppt Finanzhilfen für die Ukraine und verärgerte Anfang Juli mit einer Reise zu Putin. Die EU-Kommission verzichtete auf einen Antrittsbesuch, EU-Länder kündigten Boykotte von Treffen in Budapest an.
Streitthema Asyl Ungarn verstößt gegen das EU-Asylsystem, weil es keinen effektiven Zugang zu Asylverfahren ermöglicht. Der EuGH hat deswegen eine Strafe von 200 Millionen Euro sowie eine Million Euro für jeden Tag des Verzugs gegen Budapest verhängt. Zuletzt hat Ungarn die Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten für Russen erleichtert; auch für Investoren, die mehrere Hunderttausend Euro in Immobilien investieren oder an Institutionen wie Hochschulen spenden, gibt es visumfreies Reisen in ganz Europa und einen erleichterten Zugang zu einem dauerhaften Aufenthalt und einem Anspruch auf die Staatsbürgerschaft.
2022 wurden 45 Asylanträge in Ungarn angenommen, 2023 30 – gleichzeitig garantiert Ungarn Investoren und Russen eine erleichterte Aufenthaltsgenehmigung. Ungarn hat also nur was gegen Kriegsflüchtlinge, nicht aber gegen wohlhabende Immigranten?
Wenn es so wäre, wäre das empörend. Aber dem ist nicht so. Die "Nationale Karte" für russische und belarussische Staatsbürger bringt keine Änderungen im Visumverfahren mit sich, es bleibt das Gleiche und hat keine Auswirkungen auf die nationale und öffentliche Sicherheit. Das Verfahren entspricht den europäischen Standards und wurde von der Europäischen Kommission in keiner Weise beanstandet. Es ist eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung gemäß EU-Vorschriften. Dies gilt auch für Aufenthaltsgenehmigungen für diejenigen, die eine erhebliche Summe in Ungarn investieren. Und die erhalten nur jene, die eine Sicherheitsprüfung hinter sich haben.
Ungarn hat eine Frist der EU-Kommission zur Beantwortung der vereinfachten Einreiseregeln verstreichen lassen.
Wir haben die Fragen der Europäischen Kommission erhalten, wir antworten auf diese Fragen. Wir haben nichts zu verbergen, es gibt keinen Grund zur Besorgnis in dieser Hinsicht.
Die Ukraine will kein russisches Öl mehr durch die Druschba-Leitung nach Europa leiten, von dem Ungarn aber abhängig ist. Berichten zufolge droht ein Treibstoffengpass. Warum hat sich Ungarn bisher nicht um Alternativen gekümmert – andere EU-Staaten sind da viel weiter?
Es gibt in Ungarn keinen Treibstoffmangel, und auch nichts, was daraufhin deutet. Was aber klar ist: Die Ukraine hat gegen ihre Verpflichtung verstoßen. Sie hat sich verpflichtet, den Transport von Energiequellen, einschließlich Öl, in die EU zu garantieren. Daher ist es zweitrangig, ob Ungarn willens ist, dieses Öl zu ersetzen. Es geht um die internationale Verpflichtung eines Landes, das sich um eine EU-Mitgliedschaft beworben hat. Die Ukraine wird im Rahmen des Beitrittsprozesses eine Menge Verpflichtungen eingehen, und angesichts dieses Vertragsbruchs müssen wir uns ernsthaft Gedanken machen, ob die Ukraine den Verpflichtungen, die sie eingehen wird, auch nachkommen wird.
70 Prozent des Öls in Ungarn kommen nach wie vor aus Russland, trotz des EU-Embargos, das Ende 2022 in Kraft trat. Allein im April dieses Jahres hat Budapest 250 Millionen nach Moskau überwiesen, für Öl und Gas.
Der Transit-Vertrag wäre Ende des Jahres sowieso ausgelaufen. Und die EU-Staaten hatten nach dem Embargo-Beschluss zwei Jahre Zeit, aus russischem Öl auszusteigen. Warum hat sich Ungarn nicht darum gekümmert?
Natürlich sind wir an Alternativen interessiert. Aber wenn es um Diversifizierung in der Versorgung geht, bedeutet das auch, dass wir wählen dürfen, woher wir unsere Lieferungen beziehen. Nach EU-Recht unterliegen die Öllieferungen, die durch die Pipeline aus Russland kommen, keinen Sanktionen. Ungarn hat also das Recht, sich für dieses Öl aus Russland zu entscheiden.
Wie beurteilen Sie die Beziehung zwischen Budapest und Brüssel aktuell?
Ungarn ist als Mitgliedsstaat am Erfolg der Europäischen Union interessiert. Und die Europäische Union ist erfolgreich, wenn ihre Institutionen ordnungsgemäß und gemäß den Bestimmungen des Vertrags arbeiten. Wir sind bereit, mit jeder Kommission zusammenzuarbeiten, die im Geist der Verträge arbeitet. Der ungarische Ratsvorsitz arbeitet pragmatisch und professionell – trotz des politischen Lärms.
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