Die Ukraine verliert fast ein Drittel ihres Staatsgebiets, wird dafür vom Westen geschützt. Hinter den Kulissen wird derzeit genau darüber geredet. Allerdings gilt ein solcher Tausch – Gebietsverlust für NATO-Mitgliedschaft – noch lange nicht als ausgemacht. Erst kürzlich gaben die USA neue Waffenlieferungen bekannt. Und so bleiben weitere Szenarien für den Kriegsverlauf.
Szenario 1: Land für Putin, NATO-Beitritt für die Ukraine
„Track Two Diplomacy“ nennt man das, was Stian Jenssen im norwegischen Arendal gemacht hat. Jenssen, rechte Hand von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, meinte jetzt bei einer Podiumsdiskussion, „eine Lösung für die Ukraine könnte sein, Gebiete aufzugeben und die NATO- Mitgliedschaft zu bekommen.“
Ein Affront? Ja, aber ein kalkulierter: Unabsichtlich ventilierte der Diplomat diese Sätze nicht, das Dementi verhallte dementsprechend leise. Die Idee eines Tausches wird schon länger hinter den Kulissen diskutiert, bestätigen Experten, jetzt hat die NATO durch eine Person aus der zweiten Reihe einen Testballon steigen lassen, um die Reaktion aller Involvierten zu testen. Hintertürl-Diplomatie eben, in Kriegen eine verbreitete Praxis.
Auch wenn Kiew sich empört gezeigt hat („ein Ablasshandel!“) und die Option im öffentlichen Diskurs kaum vorkommt, ist die Möglichkeit des endgültigen Verlusts großer Gebiete – Russland beansprucht fast ein Drittel der Ukraine – ein reales Szenario für Kiew, auf das man sich auch intern vorbereitet. „Offensichtlich wird hinter den Kulissen versucht, auf die Ukraine einzuwirken und Kompromisse abzuschließen“, sagt auch Militärexperte Markus Reisner.
Der Druck wächst, weil die eigene Offensive nicht recht in Gang kommt und der Herbst mit seinem Schlamm die Lage noch verkomplizieren wird. Dazu kommt die schwindende West-Unterstützung: Kiew rechnet nicht mehr mit F-16-Jet-Lieferungen vor Jahresende. Wird Donald Trump 2024 wieder US-Präsident, bliebe der Ukraine nicht mehr als die eigene Resilienz – er hat ein Aus der Waffenlieferungen angekündigt.
Vor der Bevölkerung hätte Selenskij, der noch immer hohe Zustimmungswerte hat, mit dem Deal ein Argumentationsproblem. Seit Kriegsbeginn liegt der Anteil derer, die Gebiete abtreten wollen, unverändert bei zehn Prozent. Andererseits gibt es seit der verheerenden Schlacht um Bachmut auch in den Streitkräften Debatten, wie lange sich so ein hoher Einsatz lohnt – die Verluste der Ukrainer werden bewusst nicht beziffert. Auch ein endgültiger Schutz durch die NATO vor weiteren russischen Angriffen wäre wohl ein Gamechanger für die Bevölkerung.
Bleibt die Frage: Was würde Putin machen? Das ist schwer prognostizierbar, auch die wirtschaftliche Lage Russlands wird volatiler.
Ein Deal könnte ihm gelegen kommen, da das Kriegsziel – die Einnahme Kiews – nicht erreicht wurde; was Putin seither als Ziel definiert, ist so schwammig, dass auch partielle Gebietsgewinne als Sieg verkauft werden könnten.
Knackpunkt bliebe die Krim, die beide Seiten wegen des wirtschaftlich und militärisch wichtigen Schwarzmeer-Zugangs nicht aufgeben wollen. Nur: Hier ließ Kiew kürzlich einen Testballon steigen. Ein enger Berater Selenskijs sagte, man würde mit Moskau durchaus über die Halbinsel sprechen – wenn die eigenen Truppen deren Grenze erreicht hätten. Daran zeigt sich: Auf dem Schlachtfeld wird entschieden, wer auf dem Verhandlungstisch das Sagen hat.
Szenario 2: Der Abnützungskrieg geht weiter
Nachdem der russische Angriff auf Kiew fehlgeschlagen war, änderte der Kreml seine Strategie und beschränkte sich auf den Abnützungskrieg: Massiver Einsatz von Artillerie, Angriffe in kleinerem Rahmen – und somit geringere Geländegewinne. Dafür, so die Rechnung Moskaus, habe man gegenüber der Ukraine – und vor allem ihren westlichen Unterstützern den längeren Atem. Nicht nur im Bereich der Artilleriemunition, wo die russischen Vorräte und die Produktion viel höher sind als jene der Ukraine und ihrer Unterstützer.
Auch in puncto menschlichen Reserven kann Russland auf ein Vielfaches der Ukraine zurückgreifen. Besonders ersichtlich war das bei der Belagerung Bachmuts, als auf ukrainischer Seite gut ausgebildete Soldaten starben, die jetzt fehlen – und auf russischer Seite zum größten Teil aus dem Gefängnis rekrutierte Wagner-Söldner.
Auch die Ukraine sieht sich nach der bisher verlustreichen Gegenoffensive dazu gezwungen, einen Abnützungskrieg einzugehen. Als Substitut für die 155-Millimeter-Artilleriemunition muss Kiew auf Streumunition setzen.
Es scheint, als würden beide Seiten noch die Möglichkeit sehen, militärisch die Oberhand zu gewinnen. Solange dem so ist, dürfte der blutige Abnützungskrieg weitergehen – bis eine Seite aufgeben muss. Und da stehen die Chancen für Russland besser: Nur drei Prozent des Staatshaushalts fließen in den Krieg. Und wie lange Kiew noch so stark vom Westen unterstützt wird, ist fraglich.
Russische und ukrainische Armee einigen sich auf eine Waffenruhe. Dadurch ruhen zwar vorläufig die Kämpfe, doch von einer beiderseits akzeptieren Friedenslösung ist noch keine Rede. Deswegen käme es im Donbass und auf der Krim immer wieder zu Attacken, Terrorangriffen oder kleineren Kämpfen. Die Gefahr, dass der Krieg wieder in voller Härte ausbricht, ist stets gegeben.
Die Schwierigkeit: Ein Waffenstillstand müsste erst mit möglichst breiter internationaler Unterstützung ausgehandelt werden. 2015 etwa haben Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine in der belarussischen Hauptstadt Minsk ein Abkommen ausgehandelt, das die Separatistengebiete im Osten der Ukraine befrieden sollte. Für einige wurde der Donbass so zu einem Gebiet eines „frozen conflicts“ – ehe Russland im Februar 2022 in den offenen Krieg überging. Zweites Problem: Russland und Ukraine müssten erst einmal prinzipiell für einen Waffenstillstand bereit sein.
Szenario 4: Russland erzielt Gewinne
Die 1. Panzergardearmee der russischen Streitkräfte erlitt während des Krieges so manche Niederlage – etwa während der erfolgreichen Gegenoffensive bei Charkiw im vergangenen Jahr. Jetzt scheint sie mit neuen T-90-Panzern ausgestattet zu sein – und setzt die ukrainischen Streitkräfte bei der Stadt Kupjansk massiv unter Druck.
Von einem Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung zu sprechen, wäre jedoch verfrüht. Dennoch erlangen die russischen Streitkräfte seit Wochen in diesem Frontabschnitt die Initiative.
Sollte es den russischen Streitkräften gelingen, Kupjansk erneut zu erobern, hätten sie einen Brückenkopf über den Fluss Oskol geschaffen – und rein theoretisch das Potenzial, dort weiter vorzustoßen.
Sehr realistisch ist das nicht – die Ukraine schafft Reservetruppen heran, die bei der großen Offensive im Süden fehlen, aber eine rasche Einnahme von Kupjansk dennoch verhindern dürften. Sollte das jedoch geschehen, stünde die Ukraine vor großen Problemen. Und immer wieder wird von einem erneuten russischen Angriff aus dem Norden auf Kiew gewarnt.
Szenario 5: Ukrainischer Durchbruch
Mit der 82. Luftsturm-Brigade werfen die ukrainischen Streitkräfte ein Schwergewicht ins Gefecht – der Verband ist unter anderem mit Challenger-2-Kampfpanzern ausgerüstet. Das Ziel dürfte sein, bei der Ortschaft Robotyno an der Südfront durchzubrechen. Kiews Hoffnungen ruhen darauf, dass sich die Gegenoffensive nach einem Durchbruch der ersten russischen Verteidigungslinie beschleunigt.
Sollte dieser – aus jetziger Sicht unwahrscheinliche – Fall eintreten, die Stadt Tokmak und noch einmal 50 Kilometer weiter südlich die Stadt Melitopol befreit werden, würde sich die Ausgangslage für Kiew massiv verbessern. Die russische Nachschublinie für große Gebiete wäre unterbrochen.
Von einem Zusammenbruch der russischen Verteidigung kann derzeit aber nicht die Rede sein – und der ukrainische Blutzoll für den etwa 6,5 Kilometer tiefen Vorstoß bei Robotyno, beziehungsweise den zehn Kilometer tiefen Vorstoß bei Urozhaine, ist immens.
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