Das Schwierige dabei ist, dass einzelne Soldaten während der Minenräumung jederzeit von der russischen Seite bekämpft werden können. Etwa durch Artilleriebeschuss oder gezielten Beschuss von Maschinengewehren. Gerade deshalb braucht man die vorher erwähnten Spezialgeräte. In diesen kann man geschützt oder aus sicherer Distanz arbeiten.
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Wo hat die Ukraine jetzt die meisten Erfolge erzielen können?
Man kann die Front grob zur Einordnung in den Südraum, den Zentralraum und den Nordraum unterteilen. Im Süden haben die ukrainischen Truppen immer wieder versucht, sich am Südufer des Dnjepr mit kleineren Gruppen von Spezialkräften festzusetzen. Damit will die Ukraine vor allem Russland dazu zwingen, einige der Kräfte, die normalerweise im Zentralraum eingesetzt werden, mehr in diese Richtung zu verlagern. Sonst gab es hier aber keinen signifikanten Erfolg, wie etwa die Errichtung eines großen leistungsfähigen Brückenkopfs.
Wie sieht es im Zentralraum aus?
Hier liegt der größte Fokus der Ukraine, im Raum nördlich von Melitopol und Mariupol. Dort gibt es südlich zwar Erfolge der Ukraine bei Robotyno und Urozhaine, aber die russischen Stellungen konnten noch nicht eingebrochen werden. Ostwärts bei Urozhaine, also beim zweiten Vorstoß im Zentralraum ist es wiederum tatsächlich gelungen einige Ortschaften einzunehmen. Aber auch hier befindet man sich noch vor den Hauptstellungen der Russen.
Und wie ist die Lage im Nordraum?
Im Norden ist der dritte Vorstoß der Ukraine im Raum Bachmut mittlerweile fast zum Erliegen gekommen. Hier war man eigentlich am Beginn recht erfolgreich, weil die Russen kaum Zeit hatten, sich so intensiv vorzubereiten wie im Zentralraum. Aber auch hier konnte man sich nur einige Ortschaften, z.B. bei Klishchiivka vorarbeiten. Und es ist momentan nicht zu erkennen, ob es dort einen weiteren Durchbruch gibt. Noch weiter nördlich davon ist es im Moment sogar ungünstig für die Ukraine.
Warum?
Weil dort die sogenannte russische 1. Garde-Panzer-Armee im Einsatz ist, die in den letzten Monaten durch die Zulieferung von modernen T-90 Panzern aufgefrischt wurde. Hier ist es den Russen gelungen sogar mehrere Stützpunkte der Ukraine einzunehmen und auch mehrere Kilometer vorzustoßen. Die Ukraine hat dort jetzt Schützenpanzer und Spezialeinheiten hingeschickt, unter anderem eine mit schwedischem Gerät ausgestattete Brigade. Zusätzlich wurde die 82. Luftsturm-Brigade im Zentralraum in den Einsatz gebracht.
Die 82. Luftsturm-Brigade wurde vom Westen ausgebildet, verfügt unter anderem über westliche Stryker, Marder Kampfschützenpanzer und Challenger-Kampfpanzer und soll sehr kampfstark sein. Sie wird jetzt auch massiv im Zentralraum eingesetzt. Ist das ein gutes Zeichen oder eher ein schlechtes?
Seit Beginn der Offensive vor 75 Tagen hat die Ukraine die 82. Brigade zurückgehalten. Offensichtlich um sie jetzt eben an zentraler Stelle einsetzen zu können. Der Einsatz dieser Einheit zeigt, dass die Ukraine unbedingt in den nächsten Wochen in einen Durchbruch erzielen will.
Warum genau jetzt?
Weil sich das Wetter schon bald mit dem Herbstbeginn und der ersten Schlammperiode, genannt Rasputiza, zu Ungunsten der Ukraine verändert. Daher will man die nächsten Wochen noch nützen, um einen Durchbruch zu erzielen. Die Ukraine setzt daher jetzt alles auf eine Karte.
Wie lange hat die Ukraine noch Munition, vor allem Artillerie?
Im Gegensatz zum letzten Sommer ist es interessanterweise auf beiden Seiten zu einem verringerten Artilleriemunitionseinsatz gekommen, weil die Munition weniger wird. Man sieht das auch ganz klar daran, dass zum Beispiel die USA auf den verschiedensten Wegen versucht Munition für die Ukraine herbeizuschaffen, etwa aus Südkorea, Vietnam oder Taiwan. Und man versucht, die europäische und ukrainische Munitions-Produktion zu steigern.
Wie sieht es auf russischer Seite aus?
Eine Erklärungsmodell ist, dass auch in Russland die Munitionsvorräte weniger werden. Aber es gibt auch Gerüchte, dass die Munition rationiert wird, weil man sie für eine mögliche bevorstehende Offensive bereithalten möchte. Aber Russland ist der Ukraine in puncto Munition quantitativ immer noch überlegen.
Es scheint auf beiden Seiten auch immer mehr zum Krieg der Drohnen zu werden, oder?
Ja. Die genauen Kenner der Szene haben schon früh festgestellt, dass Drohnen ein wesentliches Element der modernen Kriegsführung sind. Im Krieg in der Ukraine sehen wir althergebrachte Muster, vieles erinnert an die Schlachtfelder des Ersten oder Zweiten Weltkrieges. Aber eben mit Komponenten, die durch die heutigen technologischen Entwicklungen möglich gemacht wurden. Der Einsatz vieler, vieler tausend Drohnen schafft natürlich ein unglaublich detailliertes Lagebild. Es ist ein sogenanntes gläsernes Gefechtsfeld, wo man bis auf unterste Ebene ein sehr genaues Lagebild hat und es im Prinzip darum geht, immer schneller als der andere zu sein und den anderen zu treffen, zum Beispiel durch den Einsatz von Artillerie.
Ist das Zögern der Lieferung von F-16-Kampfjets so etwas wie die Achillesferse der Ukraine?
Von amerikanischer Seite hört man immer wieder, dass die F-16 ist nicht das Waffensystem ist, das jetzt gebraucht wird. Die militärische Logik sagt aber ganz klar, dass für die Durchführung einer erfolgreichen Operation in dieser Qualität, wo es darum geht, massive Minenfelder unter feindlichen Stellungen zu durchbrechen, zumindest eine regionale Luftüberlegenheit des Angreifers braucht. Und das kann durch den Einsatz von F-16 Kampfjets geschafft werden. Dazu braucht es nicht hunderte von Kampfflugzeugen, sondern nur eine gewisse Anzahl, um regional eine gewisse Überlegenheit zu erkämpfen, um die Bodenkräfte beim Vorstoß zu unterstützen. Das ist nicht der Fall gewesen. Der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe hat kürzlich auch gesagt, dass vor Ende des Jahres nicht mit verfügbaren F-16 Kampfjets zu rechnen ist.
Man sieht an diesem Beispiel, dass die NATO sich nicht in einen offenen Konflikt mit Russland reinziehen lassen will. Die Frage, die sich viele Menschen stellen: "Wie lange hält die Ukraine das noch durch?" Kann die Ukraine den Krieg über mehrere Wochen, Monate noch so weiterführen?
Nun, das hängt ganz davon ab, inwieweit der Westen bereit ist, die Ukraine weiter zu unterstützen. Die Ukraine braucht die Unterstützung des Westens. Allein wäre sie nicht in der Lage, diesen Krieg weiterzuführen. Einerseits aufgrund der Zulieferung der Waffensysteme, aber auch aufgrund Unterstützung bei der Ausbildung ukrainischer Soldaten durch EU Trainings Missionen. Und andererseits natürlich die finanzielle und humanitäre Unterstützung durch den Westen. Der nächste Winter steht vor der Tür und die ukrainische Regierung hat bereits darauf hingewiesen, dass der nächste Winter noch anspruchsvoller sein wird als der letzte. Die Antwort auf die Frage ist eindeutig Wenn der Westen weitermacht und die Ukraine unterstützt, dann wird die Ukraine auch in der Lage sein, diesen Krieg noch weiterzuführen.
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Bis dato will die Ukraine alle russisch besetzten Gebiete inklusive der Halbinsel Krim befreien. Ein Vorschlag eines hohen NATO-Mitarbeiters sorgt daher in Kiew für Entsetzen: Die Ukraine könne Territorien abgeben und dafür eine NATO-Mitgliedschaft erhalten. Aber wie realistisch ist das?
Diese Äußerung wurde tatsächlich mit Interesse aufgenommen in verschiedenen Medien.
Warum?
Weil sie nämlich absolut gegen die bisher bestehende Kommunikationsstrategie gegangen ist. Bisher hat man immer ganz klar gehört: "Das Ziel ist, alle besetzten Gebiete von Russland wieder zurückzubekommen". Da war dieser Vorschlag jetzt eher unerwartet, weil er gezeigt hat, dass offensichtlich hinter den Kulissen versucht wird, auf die Ukraine einzuwirken und Kompromisse abzuschließen. Es wurde zwar zurückgerudert und im Prinzip sofort dementiert, aber ich denke es lässt sich nicht einfach leugnen. Wenn man in die englischsprachigen Leitmedien schaut, wie etwa Washington Post, New York Times, Forbes, Politico, dann werden schon die ersten Fragen gestellt. Wie lange wird es jetzt noch andauern. Wie weit sind wir bereit, weiter Waffen zu liefern. Was passiert, wenn die Wahl in Amerika ein anderes Ergebnis bringt Was heißt das, wenn der Winter möglicherweise sehr anspruchsvoll wird. Man kann also vermutlich sagen, dass im Hintergrund eine gewisse Ungeduld entsteht, und diese Aussage zeigt einen kurzen Blick hinter die Kulissen.
Aber wäre eine NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine nicht ein kompletter Affront für Russland Bei einem erneuten Konflikt in der Ukraine würden sich dann die NATO und Russland gegenüberstehen und dann wären wir wirklich an der Kippe es eines dritten Weltkrieges ...
Nun, ich denke, die Geschichte ist voller Beispiele, an denen man erkennen kann, dass man aus aussichtslosen Situationen doch irgendwie herausgekommen ist, zum Wohle der betroffenen Bevölkerung. Und um das geht es ja im Wesentlichen, dass also hier wieder Frieden herrscht. Ein Beispiel ist die Situation in Korea. Da gibt es bis heute keinen Friedensvertrag. Aber es gab Waffenstillstandsverhandlungen, die dazu geführt haben, dass man sich quasi an einer Demarkationslinie geeinigt hat, die bis heute besteht. Und das zweite Beispiel ist die DDR. Sie war Teil des Sowjets-Blocks, Westdeutschland war Teil der NATO. Wir haben also hier eine Situation, die theoretisch auch natürlich für die Ukraine denkbar wäre. Aber wann immer man signalisiert, dass die Ukraine möglicherweise einlenken soll, wird das von der russischen Seite als Sieg interpretiert. Und dass will man auf keinen Fall.
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