Im Grabensystem. Der ukrainische Soldat, dessen Helmkamera das Video aufnimmt, rückt langsam vor. Ein russischer Soldat kommt plötzlich um die Ecke, am Bild taucht das Sturmgewehr des Ukrainers auf, der Mann feuert, erschießt sein russisches Gegenüber rasch. Befehle aus dem Funkgerät, da kommen zwei weitere russische Kämpfer, augenscheinlich überrascht von den Feinden im eigenen Schützengraben. Granaten fliegen, weitere Schusswechsel folgen – später will diese ukrainische Spezialeinheit den Graben genommen, zehn russische Soldaten getötet haben.
Zahlreiche Angriffe mit Verlusten
Jener Angriff war einer von Dutzenden, wahrscheinlich Hunderten, die die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Wochen im Süden des Landes unternommen hatten. Angriffe, die zumeist bereits früher abgebrochen werden mussten – oder frühzeitig blutig endeten. Denn bis die ukrainischen Einheiten in die russischen Grabensysteme gelangen, und dort in den hochgefährlichen, unübersichtlichen Grabenkampf übergehen können, gilt es, eine Vielzahl von Gefahren zu überwinden.
In diesem Artikel lesen Sie:
- Wie die russischen Verteidigungsstellungen beschaffen sind
- Wie viele Kilometer zwischen der Front und dem nächsten Ziel liegen
- Wo das größte Problem der ukrainischen Streitkräfte liegt
- Wie dieses Problem am ehesten angegangen werden könnte
Wenn die ersten Wochen der ukrainischen Gegenoffensive eine Sache deutlich gezeigt haben, dann, dass die russischen Streitkräfte zumindest in der Verteidigung verstärkt darauf setzen, unterschiedliche Waffengattungen verbessert zu kombinieren. Gerade die Abläufe in der Befehlsstruktur zwischen Drohnen und Artillerie dürften drastisch verkürzt worden sein. Das Ergebnis: Relativ scharfe Drohnenaufnahmen von zerstörten Kampf- und Minenräumpanzern Leopard 2 – vermutlich von jenen Drohnen, die zuvor die Koordinaten der vorrückenden Panzer an die Artilleriekommandanten geschickt hatten.
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In zahlreichen Videos, deren Echtheit unabhängig verifiziert wurde, sind neben Kampf- und Schützenpanzer auch Mannschaftstransporter zu sehen, die auf Minen auffahren, beschädigt werden oder detonieren. Und dann ist da noch die Gefahr aus der Luft: Vor allem die russischen Helikopter, etwa die Ka-52, haben mit ihren Panzerabwehrraketen „9K121 Vikhr“ (Reichweite von acht Kilometern) bereits einige ukrainische Panzer zerstört.
Gleichzeitig scheinen die russischen Streitkräfte ihre elektronische Drohnenabwehr an der Front verbessert zu haben – ein großes Problem für die ukrainische Aufklärung und mittlerweile auch Kampfführung. Denn vor allem im Grabenkampf haben sie sich als tödliche Waffe erwiesen, indem sie präzise Granaten in Stellungen fallen lassen.
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Derzeit sieht die ukrainische Kampfführung so aus, dass mittels Panzern und Transportern ukrainische Gruppen an ein Grabensystem herangeführt werden, zumindest ein Schützenpanzer den Feind mit massivem Dauerfeuer „niederhält“ und die Soldaten in den Graben eindringen.
200 Kilometer breite Südfront
Im Fall des eingangs erwähnten Kampfes scheint das gelungen zu sein. Allerdings handelt es sich bei diesem Grabensystem um einen russischen Vorposten, der noch einige Kilometer vor der ersten russischen Hauptverteidigungslinie liegt. Der tiefste Vorstoß, den die ukrainischen Streitkräfte bis dato an der etwa 200 Kilometer breiten Südfront erzielen konnten, beträgt acht Kilometer. Auch dort ist man von der ersten „echten“ russischen Verteidigungslinie noch weit entfernt.
Blickt man auf das wahrscheinliche Hauptziel der Ukraine – die Stadt Melitopol – so liegen zwischen den Vorposten, die derzeit hart umkämpft sind, sieben weitere Kilometer, gespickt mit Minenfeldern, Panzersperren und Stacheldraht, ehe es das erste von zwei großen Grabensystemen zu überwinden gilt. Weitere 25 Kilometer, an einer wichtigen Verbindungsstraße, liegt die Stadt Tokmak, die vor dem Krieg etwa 35.000 Einwohner hatte.
Stellungssysteme um die ganze Stadt
Um die gesamte Stadt herum sind Stellungssysteme ausgehoben. Sollten es die russischen Streitkräfte darauf anlegen, würde die Ukrainer dort ein langwieriger Ortskampf erwarten. Gleichzeitig befindet sich in westlicher Verlängerung der Stadt eine weitere russische Verteidigungslinie. Sollte diese überwunden werden, läge 40 Kilometer südlich Melitopol. Entlang der Hauptstraße sind von Nor nach Süd durchgehend russische Stellungen bereit, von Osten her sind diese durch einen Fluss geschützt.
Es ist klar, dass die ukrainischen Streitkräfte nicht nur über eine Richtung angreifen, eine solche Angriffsoperation nur gelingen kann, wenn mehrere Fronten eröffnet werden, sich die Möglichkeiten bieten, flankierende Angriffe zu starten. „Eine solche Unternehmung ist kein Hollywoodfilm“, sagte unlängst ein Militärexperte und wies darauf hin, dass bei einem Angriff auf derartig gut vorbereitete Stellungen immer mit hohen Verlusten zu rechnen sei.
Eines der größten Mankos auf ukrainischer Seite ist allerdings der Mangel an Luftstreitkräften: „Stellen Sie sich vor, die alliierten Luftwaffen hätten nicht in den Wochen und Monaten vor der Landung der Truppen im Juni 1944 diese Angriffe durchgeführt. Dann wären sie in perfekt ausgebaute Stellungen und bereitgestellte Reserven der Deutschen an der Atlantikküste gelaufen. Das ist das Dilemma der Ukrainer“, pflegt Militärexperte Oberst Markus Reisner zu analysieren. Es sind Mankos, die die Ukraine durch gezielten Beschuss russisch besetzter Flugfelder zumindest etwas ausgleichen können. Allerdings wurde kürzlich bekannt, dass russische Kampfjets für ihren Einsatz an der ukrainischen Südfront von Südossetien aus starten. Weit weg vom Radius ukrainischer Raketen.
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