Vor allem die komplexen und größtenteils durchgängigen Befestigungslinien, die in den vergangenen Monaten errichtet wurden, werden die ukrainischen Streitkräfte vor große Probleme stellen. Minenfelder, Panzergräben, Drachenzähne, Bunker und Schützengräben – und das in einer Tiefe von einigen Kilometern. Nach derzeitigem Stand dürfte ein Angriff auf Verteidigungssysteme wie dieses eine hohe Zahl an Opfern erfordern. Unabhängig davon, wie koordiniert die ukrainischen Streitkräfte den sogenannten Kampf der verbundenen Waffen beherrschen sollten.
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Dazu kommt die Artillerie, die die russischen Kräfte vermehrt einsetzen, um eine Rückeroberung besetzter Gebiete zu verhindern.
Der Munitionsverbrauch auf russischer Seite war und ist immens – im Sommer vergangenen Jahres verschoss die russische Artillerie 60.000 Granaten pro Tag. Von den 17 Millionen Stück, die das Land vor dem Krieg hatte, dürften noch etwa sechs Millionen übrig sein. Gleichzeitig produziert Russland 9.000 Stück pro Tag (die USA nach derzeitigem Stand knapp über 500). Dennoch ist auch auf russischer Seite Haushalten angebracht. Dies gelingt laut dem RUSI-Bericht dank der „konsequenten Integration von Drohnen“. Anhand des sogenannten „Strelets Systems“ sei es möglich, Drohnenaufklärungsergebnisse zu verbessern, da die Drohnen mittlerweile den Kommandostellen direkt unterstellt seien, würde auch die Feuerfreigabe rascher erfolgen. Damit kann Artillerie effizienter eingesetzt werden.
Ein weiterer Fortschritt aus russischer Sicht ist der Einsatz von Lancet-Drohnen – mehr als 100 ukrainische Haubitzen wurden von ihnen in den vergangenen Monaten zerstört. Noch immer scheinen die ukrainischen Streitkräfte kein probates Gegenmittel gefunden zu haben. Ebenso wenig gegen die zu Gleitbomben umgebauten FAB-500, über die Russland in hoher Zahl verfügen soll.
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Durch diesen Einsatz muss die russische Luftwaffe nicht über die Frontlinien fliegen, kann aus sicherer Entfernung angreifen. Bisher hat Russland etwa 80 Flugzeuge verloren – und somit noch 1.000 Jäger und Jagdbomber im Einsatz. Im Rahmen der angekündigten F-16-Lieferungen ein klares Zeichen, dass die Ukraine mit diesen Kampfjets nicht zwingend die Lufthoheit erlangen muss.
Russische Luftabwehr verbessert
Vor allem hat sich die russische Luftabwehr – vor einem Jahr ging der Angriffskrieg in einen Abnützungskrieg mit festen Stellungen über – ebenso verbessert. „Die russische Luftabwehr ist eindeutig viel effektiver, wenn sie ordnungsgemäß verbunden werden kann, als in einem dynamischen Kontext wo sie vorrückende Kräfte decken müssen. Dies ermöglicht den russischen Besatzungen eine optimale Effizienz gegen das derzeitige Spektrum an Bedrohungen“, hält der RUSI-Bericht fest. Auch gegen die HIMARS-Raketen, die vor einem Jahr eine massive Bedrohung für russische Kommandoposten und Munitionsdepots darstellten, scheinen die russischen Streitkräfte ein Mittel gefunden zu haben, fangen immer mehr dieser Geschosse ab.
Die Infanterie bleibt eine Schwachstelle. Mit dem Niedergang der taktischen Bataillonskampfgruppe setzen die russischen Streitkräfte auf den Einsatz von vier „Klassen“: Angriffseinheiten, spezialisierte Einheiten, Linieneinheiten sowie „Wegwerfeinheiten“. Während die Angriffseinheiten ein umfassendes Training durchlaufen und als vollwertige Kräfte angesehen werden, die vom Ausbau von Grabensystemen und dergleichen ausgenommen sind, übernimmt die Linieninfanterie das Schanzen, beziehungsweise ist bei der mechanisierten Truppe eingesetzt. Die russischen Panzer sind mit Masse nicht mehr für einen Durchbruch an der Front eingesetzt, sondern vielmehr zur Feuerunterstützung gegen ukrainische Stellungen. Gleichzeitig werden sie stärker gegen Wärmebildgeräte getarnt.
"Wegwerfeinheiten"
Die „Wegwerfeinheiten“ wiederum bestehen laut RUSI aus Wehrpflichtigen aus den selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, von der Wagner-Gruppe eingezogene Gefangene und unzureichend ausgebildete, mobilisierte russische Zivilisten. In Einheiten zu je 15 Mann sollen sie bei einem Angriff vorgeschickt werden. Schlägt er fehl, haben die Angriffs- oder Spezialeinheiten Schwächen in der ukrainischen Verteidigung erkannt und schlagen zu. Eine ähnliche Taktik wandte die Wagner-Gruppe etwa in Bachmut an.
Das Vorgehen der Infanterie sei auf die russische Unfähigkeit zurückzuführen, genügend Soldaten auszubilden.
Der Bericht hält in seinem Resümee jedoch fest, dass die russischen Streitkräfte stets nur auf neue Bedrohungen reagieren würden können – und es fraglich bleibt, ob Veränderungen als Ganzes rasch durchgesetzt würden. Das größte Risiko für den weiteren Kriegsverlauf sei es, wenn ein anderer Staat Russland mit Munitionslieferungen – vor allem im Bereich der Artillerie – unterstützen würde.
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