Ende Februar 2022. Die russischen Invasoren rücken rasch von Osten in Richtung Kiew vor, bis auf einige Verzögerungsgefechte wird das Vorankommen der etwa zwanzig Bataillonstaktischen Gruppen (BTGs) nicht weiter behindert. Zeitgleich stehen die Truppen im Süden kurz vor der Einnahme der Stadt Cherson am westlichen Ufer des Dnepr.
Der Angriff auf die Ukraine scheint im Großen und Ganzen zu funktionieren. Was die vorrückenden Truppen im Norden noch nicht wissen: Sie laufen in eine Falle, gestellt durch die ukrainischen Streitkräfte. Denn diese haben aus der Vergangenheit gelernt.
➤ "Lancet"-Drohnen werden zu massivem Problem für Ukraine
Juli 2014, Donbass. Der Artillerieeinschlag kommt so präzise wie überraschend: 34 Soldaten getötet, 49 Fahrzeuge, darunter acht Panzer, vernichtet – die ukrainische Brigade (etwa 3.000 bis 4.000 Mann) ist de facto kampfunfähig gemacht worden, muss sich zurückziehen. Geschlagen von einer russischen „Bataillonstaktischen Gruppe“ (auch taktische Bataillonskampfgruppe, 600 bis 800 Soldaten).
Reformprozess
Die BTG war das Ergebnis eines Reformprozesses in den russischen Streitkräften. Die alten Strukturen seien zu unflexibel gewesen, lautete die Analyse nach dem Georgien-Einsatz 2008. „Die neuen Konflikte, so die russischen Planer, verlangten neue Methoden der Kriegsführung. Im Mittelpunkt stand die Idee der hybriden Kriege – von Kriegen, die vor allem auf dem Einsatz nicht-militärischer Mittel und Kräfte beruhen, aber militärische Anteile (Kräfte) erfordern, die rasch und effizient einsetzbar sein müssen“, schreiben Oberst Markus Reisner, Kommandant der Garde, und Oberst Christian Hahn, Hauptlehroffizier Taktik an der Theresianischen Militärakademie in einem Beitrag der Zeitschrift SIRIUS.
➤ Was passiert, wenn Bachmut fällt
Rasche Reaktionsfähigkeit
Die BTGs sollten direkt durch die Armee geführt werden, was einen großen Vorteil für ihre Reaktionsfähigkeit bedeutete. Gleichzeitig sollte eine BTG auf die Lagebilder der Armee zugreifen können, also über die Gesamtsituation in der Umgebung im Bilde sein.
➤ So funktioniert die ukrainische Artillerie
Dank gezielter Drohnenaufklärung konnte die russische Einheit den Artillerieschlag im Juli 2014 punktgenau anfordern – und ihre Gefährlichkeit unter Beweis stellen. Vor allem die Kombination aus Drohnen- und Artillerieeinsatz machte die BTG zu einer so gefürchteten Einheit. Allerdings wurde bereits 2014 offensichtlich, dass es mehr Infanterie bedurfte. Damals konnten separatistische Milizen dieses Manko ausgleichen.
Kampf der verbundenen Waffen
Grundsätzlich besitzt eine BTG alle organisatorischen Fähigkeiten zum selbstständigen Kampf der verbundenen Waffen: Panzer- und Fliegerabwehr, Mehrfachraketenwerfer, Aufklärer, Logistik sowie Sanitätselemente und Fernmelder. Je nach Einsatz wird die „Grundtruppe“ – drei bis vier Kompanien Panzergrenadiere – mit dem jeweiligen Element verbunden.
Dies ermöglicht es einer BTG, selbstständig Aufträge zu erfüllen und mobiler zu sein. Sie ist rasch einsetzbar und hat sich auf verschiedenen Kriegsschauplätzen, auch in Syrien, bewiesen.
Vor allem die Tatsache, dass die Artillerieschläge im Juli 2014 von russischem Boden aus abgefeuert wurden, zeigte den ukrainischen Streitkräfte, dass eine Verteidigung direkt an der Grenze wenig Sinn ergeben würde.
Ein anderes Konzept musste her. Eines, das die Schwachstellen der Bataillonstaktischen Gruppe ausnutzen konnte: Eine BTG kann nur für etwa drei Tage lang autark agieren.
Anfang März 2022. Der Nachschub ist ausgefallen. Ukrainische Spezialeinheiten haben die russische Logistik durch gezielte Überfälle entscheidend geschwächt, die eigenen Linien sind zu überdehnt. Einheiten müssen zum Schutz der Versorgung abgestellt werden, Einheiten, die fehlen werden. Der Treibstoff wird knapp, erste Tankstellen müssen geplündert werden – in einem Land, von dem man dachte, der militärische Widerstand sei enden wollend. Bei Brovary, einem Kiewer Vorort, wird eine BTG durch ukrainische Artillerie vernichtend geschlagen. „Vor allem der geringe Anteil an infanteristischen Kräften führte nun zu großen Ausfällen innerhalb der russischen BTGs. Es wurde zunehmend offensichtlich, dass die Gliederung der BTGs – 2014 Erfolgsgarant – nicht in der Lage war, die geforderten Gefechtsaufgaben erfolgreich abzuschließen“, schreiben Reisner und Hahn.
Dazu kommt, dass die Ukrainer auch in puncto Artillerie gelernt haben: Mit dem eigens entwickelten GIS-Arta-System. Dank diesem ist es den ukrainischen Einheiten möglich, mit Artilleriewaffen vom Boden aus Ziele in weiter Entfernung zu treffen. Das System wurde von ukrainischen Programmierern in Zusammenarbeit mit britischen Unternehmen entwickelt und soll extrem effizient sein: Durch die schnelle Zielerfassung wurde die Reaktionszeit der Feuereröffnung auf feindliche Stellungen von 20 Minuten auf eine Minute reduziert.
Ende März/Anfang April 2022. Die russischen Einheiten ziehen aus dem Norden der Ukraine ab. Die Angriffe auf Kiew, Charkiw und andere Städte sind fehlgeschlagen, der Kreml nennt plötzlich die Eroberung des Donbass als Hauptziel.
Zurück zur alten Taktik
Erreichen will das die russische Führung mehr und mehr ohne die Bataillonstaktischen Gruppen: Bereits im Frühling 2022 werden zwei bis drei BTGs zu Regimentskampfgruppen zusammengefasst. Die Artillerie feuert – ganz nach dem sogenannten „Angriffsverfahren Ost“ – massiv, ehe kompaniestarke russische Truppen in erkannte Lücken vorstoßen. Dieser Trend setzte sich fort, bei der versuchten russischen Winteroffensive spielten die BTGs gar keine Rolle mehr – in diesem Krieg waren sie gescheitert.
„Es ist klar, dass es die BTGs nicht geschafft haben, einen entscheidenden Einfluss auf den derzeitigen Konflikt zu nehmen, dies bedeutet jedoch nicht, dass dieses Konzept keinen Wert hat“, schreibt David Saw in der Fachzeitschrift European Security and Defence.
Für einen Einsatz in einem hybriden Kriegsszenario habe sich die BTG als geeignet herausgestellt, bei komplexeren Operationen wie dem konventionellen Krieg würden sich allerdings größere Verbände wie Brigadekampfgruppen empfehlen.
Kommentare