Lebt Prigoschin noch? Die Theorien blühen, und Putin freut’s
War alles nur Inszenierung? Oder war er schon vor dem Absturz tot? Dass über Vorfälle wie das mysteriöse Ableben des Wagner-Chefs spekuliert wird, hat in Russland seit Langem Methode. Es nutzt dem Kreml.
3. Oktober 2019: Ein Frachtflugzeug stürzt in der Demokratischen Republik Kongo ab, alle acht Insassen sterben – darunter soll sich auch ein gewisser Jewgeni Prigoschin befinden. Drei Tage lang wird berichtet, der Wagner-Chef sei tot, ehe die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti einen Vertrauten Prigoschins zitiert, der bestätigt, dass er sich bester Gesundheit erfreue.
Fast vier Jahre später stürzt Prigoschins Embraer Legacy 600 nordwestlich von Moskau ab, er soll sich gemeinsam mit hohen Wagner-Kommandanten an Bord befunden haben und umgekommen sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass jener Mann, der zwei Monate zuvor einen Aufstand gegen Teile der russischen Regierung geprobt hatte, nun deren Rache zu spüren bekam, ist hoch. Ungleich höher als die Spekulationen und Theorien, die derzeit im Umlauf sind.
Der KURIER hat sich fünf dieser Theorien angesehen und erklärt, was diese mit "Kascha“, also Brei, zu tun haben.
Theorie 1: Eine Rakete hat Prigoschins Flugzeug getroffen
Die russische Flugabwehr habe Prigoschins Flieger abgeschossen, wurde Mittwochabend in russischen wie westlichen Kanälen spekuliert. Auch aus US-Kreisen wurden zunächst ähnliche Spekulationen angestellt - schließlich gibt es einen Militärstützpunkt ganz in der Nähe. Am späten Donnerstag die US-Kehrtwende: Man habe "keine Informationen, die nahelegen, dass es eine Boden-Luft-Rakete gab", sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums.
Berichte über eine Rakete seien "falsch". Allerdings nannten US-Geheimdienste in einer ersten Einschätzung eine absichtlich herbeigeführte Explosion als wahrscheinliche Ursache für den Absturz.
Dass die Embraer bis zu ihrem schnellen Absturz keinerlei Anzeichen für technische Gebrechen gezeigt hat, lässt viele über eine Bombe an Bord spekulieren. Daran glauben US-Geheimdienste, die von einer "absichtlich herbeigeführten Explosion“ sprechen, als auch Sicherheitskreise in Russland: Einige Telegramkanäle, die Nachrichten aus dem Dunstkreis der Silowiki verbreiten, berichteten überraschend parallel über eine ominöse Weinkiste, die kurz vor Abflug an Bord geladen worden sei – und das, nachdem das Flugzeug von Suchhunden abgeschnüffelt worden sei.
In Umlauf gebracht wurde auch die Erzählung einer Flugbegleiterin, die an Bord starb: Sie soll Bekannten vor Abflug noch berichtet haben, dass das Flugzeug überraschenderweise repariert werden musste. Gesucht wird in diesem Zusammenhang Prigoschins persönlicher Pilot, der Zugang zur Maschine hatte, den Flug aber nicht absolvierte – er war kurz davor nach Kamtschatka gereist und ist dort nicht auffindbar.
Theorie 3: Prigoschin war gar nicht im Flugzeug
Ist er Putins Schergen entwischt? Diese Theorie treibt vor allem Prigoschin-Fans um. Prigoschin war bestens vernetzt – da erscheint es logisch, dass er vor Abflug einen Tipp bekommen haben könnte, nicht ins Flugzeug zu steigen.
Genährt wird diese Version durch das zweite Flugzeug aus Prigoschins Flotte, das während des Absturzes der Embraer in der Luft war – ein Flugzeug des exakt selben Typs, das zur selben Zeit auch auf dem Weg von Moskau nach Petersburg war. Wie einige Kommentatoren irritiert feststellten, gibt es weder vom Abflug- noch vom Zielflughafen Videomaterial, das Prigoschin zeigen würde – obwohl in beiden Städten beinahe jeder Quadratzentimeter überwacht wird. Auch, dass das zweite Flugzeug sich jetzt in Baku in Aserbaidschan befindet, wirft Fragezeichen auf.
Möglich scheint deshalb auch, dass Prigoschin seinen Tod nur vorgetäuscht hat: "Prigoschin ist am Leben und in Mali“, postete ein Prigoschin nahestehender Telegram-Kanal mit mehr als 460.000 Mitgliedern. „Augenzeugen“ hätten ihn gesehen. Andere Quellen, so der Kanal, würden die Nachricht verbreiten, dass Prigoschin und 250 Wagner-Kämpfer am Freitag in Niger landen würde. Eine Nachricht, die – blickt man auf die Reaktionen – vielen der mehr als 430.000 Gruppenmitgliedern Hoffnung gab, dass der Mann, der für zahllose Massaker verantwortlich ist, noch am Leben sei
Unter anderem dagegen spricht: Einen Tag vor dem Flugzeugabsturz besuchte der stellvertretende Verteidigungsminister Russlands den libyschen General Chalifa Haftar, um über eine vertiefte Kooperation zwischen beiden Staaten zu sprechen. Bislang waren lediglich Wagner-Söldner an der Seite Haftars. Es deutet also darauf hin, dass bereits Schritte gesetzt wurden, das russische Afrika-Geschäft in die Hände des Kremls zu bekommen.
Spekuliert wird in diesem Zusammenhang auch, dass Putin und Prigoschin die Inszenierung paktiert hätten – er hätte so seine Geschäfte weiter verfolgen können, Putin hätte den starken Mann markiert.
Die russische Social-Media-Welt hält viel auf Putin – bei der Meuterei Prigoschins hat sie ihm zugetraut, dass er selbst den Aufstand initiiert hat, quasi gegen sich selbst geputscht hat – um den Druck aus dem Kessel zu nehmen, so die nicht ganz schlüssige Behauptung.
Ähnlich inkohärent ist auch die These, dass Prigoschin deshalb seit dem Aufstand verschwunden war, weil er längst um die Ecke gebracht worden ist – das kürzlich veröffentlichte Video aus Afrika sei schon vor Langem aufgenommen worden oder ein Deep Fake. Der Kreml habe den Absturz jetzt inszeniert, um eine Warnung an alle anderen potenziellen Putschisten abzusetzen, so die Theorie. Die Frage, warum man das mit so großem Aufwand und mehreren Todesopfern gemacht hat, bleibt aber unbeantwortet.
Theorie 5: Die Ukraine war es
"Prigoschin wurde als Geschenk für Selenskij am Vorabend des ukrainischen Nationalfeiertags getötet!“, polterte der russische Propagandist Sergei Markow nach dem Flugzeugabsturz. Der ehemalige Putin-Sprecher meinte, es sei "völlig klar“, dass die Ukraine dahinterstecke.
Dass Kiew über Möglichkeiten verfügt, in Russland Attentate zu verüben, ist nicht zuletzt seit dem Anschlag auf Darja Dugina klar. Allerdings ergäbe ein solcher Aufwand aus Sicht der Ukraine wenig Sinn: Die Wagner-Gruppe kämpft derzeit nicht in der Ukraine und solange Prigoschin lebte, konnte das immer als eine gewisse Schwäche Putins ausgelegt werden.
Die Energie, die für ein solches Attentat notwendig wäre, wäre bei vergleichsweise leichteren Aufgaben, wie der Ermordung wichtiger russischer Generäle, aus Sicht Kiews besser eingesetzt.
Conclusio:
Egal, welche Theorie stimmt, oder ob es doch ganz anders war: Putin hat sein Ziel ohnehin erreicht. Dass bei Vorfällen wie diesen vieles im Unklaren bleibt, dass jede Verschwörungstheorie eine neue hervorbringt, ist nämlich Strategie in Russland - und das nicht erst seit Putin. "Agitprop“ nannte man das in der Sowjetunion, die bewusste Verwirrung der Öffentlichkeit durch mehrere, sich einander widersprechende Wirklichkeiten. Sowjetbürger machten viele Witze über die Kunst, zwischen den Zeilen der Kreml-Aussagen zu lesen – man nannte das, was im Kopf dabei entstand, scherzhaft "Kascha“, also Brei.
Dieser Gedankenbrei hat eine Funktion: Die Vielzahl an Informationen ist so verwirrend, dass die Bürger dadurch apolitisch werden. Das haben die Sowjets gewusst, die zu diesem Zweck 1963 im KGB eine Sondereinheit zur "Desinformazija“ gründeten (das Wort Desinformation taucht hier das erste Mal auf), und das nutzt Putin mithilfe von Social Media bis zur Perfektion: Solange niemand wissen kann, was richtig ist, hat er immer recht.
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