Übergriffe: Warum Kleidung verantwortlich gemacht wird

Symbolbild
Eine Psychologin erklärt, dass die weibliche Kleidungswahl lange dafür benutzt wurde, sexualisierte Gewalt zu entschuldigen.

Wenn es gesellschaftlich akzeptiert wäre alles zu tragen, was würdest du tragen? Diese Frage stellte eine Frau namens Pia Sari vor rund zwei Wochen auf Quora. Die Plattform ist ein digitaler Auskunftsdienst im Internet, der Antworten auf konkrete Fragen gibt. Sari erläuterte, dass sie in der Arbeit einmal einen Bleistiftrock getragen hat und keine Vorstellung davon gehabt habe, dass sie dieses Kleidungsstück in Schwierigkeiten bringen könnte. Sie sei den ganzen Tag angestarrt worden und habe sich jede Menge Kommentare über ihr Äußeres und ihren Hintern anhören müssen, vor allem von Männern. Sie sei unsicher, ob das bereits in die Kategorie sexuelle Belästigung fällt, sie habe sich jedenfalls nicht wohl gefühlt und in der Bürotoilette geweint, weil sie realisiert habe, dass sie nicht einmal einen Bleistiftrock tragen könne, ohne Kommentare von Männern und finstere Blicke von Frauen zu kassieren. "Ich möchte einfach nur einen Bleistiftrock tragen. Einfach nur einen Bleistiftrock."

In puncto sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist es nicht unüblich, dass diese auf deren Kleidungswahl zurückgeführt wird. Im Jänner dieses Jahres machte ein indischer Minister Frauen, die Opfer von Übergriffen werden, für diese selbst verantwortlich, weil sich diese zu "westlich" kleiden würden. Auf Weinstein angesprochen sagte die US-Designerin Donna Karan, dass Frauen mit sexy Outfits selbst nach Ärger fragen würden. Später entschuldigte sie sich für ihre Aussage (mehr dazu hier). Immer wieder wird auch argumentiert, dass Kleidervorschriften an Schulen notwendig seien, damit Mädchen nicht die Aufmerksamkeit von Buben auf sich ziehen und diese so vom Unterricht ablenken.

Folglich ist es wenig verwunderlich, dass sich Frauen, die Opfer von sexualisierter Gewalt werden, häufig selbst die Schuld daran geben und sich infrage stellen.

Täter-Opfer-Umkehr

Dieser Mechanismus, der als Victim Blaming (auf Deutsch Täter-Opfer-Umkehr) bezeichnet wird, wurde laut einem Artikel von Yahoo Lifestyle zum ersten Mal im Jahr 1966 untersucht. Melvin Lerner und Carolyn H. Simmons, zwei Verhaltensforscher der University of Kentucky, veröffentlichten ihre bahnbrechende Untersuchung über das Bedürfnis von Menschen, in einer "gerechten Welt" zu leben. Das sei unter anderem daran erkennbar, dass Menschen für sich selbst erklären, dass Opfer auf irgendeine Art und Weise ihre Umstände auch verdient hätten. Laut der Studie ist es offensichtlich, dass es für die meisten Menschen ihrer eigenen geistigen Gesundheit zuliebe nicht möglich ist, an eine Welt zu glauben, die von Zufälligkeiten bestimmt wird. Aus diesem Grund wird an der Annahme festgehalten, dass es zwischen Bestrebung und Resultat einen Zusammenhang geben muss und dieser auf jeden Menschen und seine Situation anwendbar ist. Das bestärkt den Glauben, dass eine Person, der Leid oder Unglück widerfährt und die zum Opfer wird, dieses Schicksal zu einem Teil auch verdient hat.

Dieses Muster zeigt sich unter anderem auch dann, wenn Menschen kontrollierbare äußere Faktoren, wie beispielsweise ein Kleidungsstück, als Grund für einen Übergriff heranziehen. Denn das vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und Erklärbarkeit.

"Warum ich?"

"Die erste Frage, die Vergewaltigungsopfer häufig stellen, ist 'Warum ich?' Es ist ein menschliches Bedürfnis, eine Erklärung für Ungerechtigkeit zu finden und sich von dem Gefühl zu distanzieren, dass das Leben von Zufälligkeiten bestimmt wird", erklärt Sandra Shullmann, eine Psychologin, die auf Belästigung und feindliche Arbeitsumgebungen spezialisiert ist, gegenüberYahoo Lifestyle.

"Die weibliche Kleidungswahl wurde lange dafür benutzt, sexualisierte Gewalt zu entschuldigen, wenn man sich aber die Datenlage ansieht, warum Menschen vergewaltigen, erweist sich das als nicht stichhaltig", sagt Shullmann. "Eine Studie hat gezeigt, dass Vergewaltiger Kleidung als Begründung für ihre Taten herangezogen haben, tatsächlich aber haben die Opfer eine Bandbreite von offenherzig bis hin zu Schneeanzügen getragen. Das sind Argumente, die dafür benutzt werden, die Verantwortlichkeit von Kontrolle und Macht vom Täter auf das Opfer zu übertragen." Bezüglich sexualisierter Gewalt würde Kleidung daher "keine Rolle" spielen.

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