Nicht politisch korrekt: Pippi, der ewige Bürgerschreck
Sie war neun Jahre alt und sie wohnte ganz allein. Sie hatte keine Mutter und keinen Vater, und eigentlich war das sehr schön, denn so war niemand da, der ihr sagen konnte, wann sie zu Bett gehen sollte ...
Rebellisch, ungestüm und vielleicht ein bisschen einsam war dieses Mädchen. Geborgenheit hatte Pippi Langstrumpf gegen Freiheit eingetauscht und diese machte nicht wenigen Angst. „Vulgär und demoralisierend“ fanden Literaturkritiker das anarchische Kind schon beim ersten öffentlichen Auftritt 1945. Pippi Langstrumpf, von Astrid Lindgren als Gutenachtgeschichte für ihre Tochter Karin erschaffen, sei, so schrieb ein Literaturkritiker, wie „etwas Unangenehmes, das an der Seele kratzt“.
Machte man sich in den Vierzigerjahren Sorgen um die Untergrabung von Autorität, so geht es heute um potenziell verletzte Gefühle. Das Buch, in 77 Sprachen übersetzt, gilt weltweit als Longseller. Laut Oetinger-Verlag gehört es nach wie vor zu den gefragtesten Kinderbüchern überhaupt. Insgesamt wurden 8,5 Millionen Pippi-Bücher verkauft.
Wie aber kommt es bei der „Generation beleidigt“ an, wie die Französin Caroline Fourest die identitären Linken nennt, wenn in einem Kinderbuch steht, dass „in Nicaragua alle Menschen lügen“? Könnte sich jemand daran stoßen, dass Pippi behauptet, in Brasilien gingen alle Menschen mit Ei im Haar herum? Dass sie bei ihrem Lieblingsspiel, dem Sachensuchen, einen auf dem Boden Liegenden mitnehmen und in einen Kaninchenkäfig stecken möchte? Könnte Pippi, würde sie an einer amerikanischen Universität unter die Lupe genommen, Opfer der Cancel Culture werden? Oder zumindest eine Triggerwarnung verpasst bekommen?
Immerhin wird an manchen amerikanischen und britischen Universitäten bereits vor potenziell schwer verdaulichen Inhalten in Literaturklassikern gewarnt. In Österreich hat der Tiroler Haymon-Verlag unlängst begonnen, Neuerscheinungen mit sogenannten Triggerwarnungen zu versehen: Hinweisen darauf, dass die Texte möglicherweise verstörende Inhalte thematisieren.
Die Meinungen darüber, was wen verletzen könnte, gehen weit auseinander. „Unlängst saß ich auf einem Podium neben einer Kollegin, die meinte, Pippi Langstrumpf gehöre nicht in eine öffentliche Bücherei“, erzählt Franz Lettner vom Institut für Kinder- und Jugendliteratur. „Es folgte eine heftige, sehr emotionale Diskussion.“
Politische Korrektheit war schon früh ein Thema in der Kinder- und Jugendliteratur, wo es auch um Pädagogik ging. Dass Aufmerksamkeit und damit einhergehende Achtsamkeit in den vergangenen 15 Jahren gestiegen sind, begrüßt Lettner grundsätzlich, „man muss Kinder in Schutz nehmen. Wie man das macht, da gibt es eben viel Für und Wider“.
Eine Herausforderung stelle die neue Achtsamkeit hauptsächlich bei Kinderbuch-Klassikern und weniger bei Neuerscheinungen dar. Hin und wieder kommen allerdings auch Autoren aktueller Bücher in Erklärungsnot. Als Bettina Balàka jüngst ihr erstes Kinderbuch „Dicke Biber“ präsentierte, wurde sie von einer Journalistin darauf angesprochen, dass man niemanden, auch keinen Biber „dick“ nennen solle, das sei schließlich „Fatshaming“, vermittle also Personen (oder diesfalls Bibern), deren Körpergewicht außerhalb der Norm liege, ein negatives Gefühl. Die Autorin war, erzählt sie dem KURIER, „ein bisschen sprachlos“.
Pippis Langstrumpfs Papa ist schon lange nicht mehr „Negerkönig“, aber wer unbedingt möchte, kann es auch kolonialistisch finden, dass er jetzt Südseekönig ist. Insgesamt seien Pippi und ihre Schöpferin aber derartige Säulenheilige, dass man sich nicht recht an sie herantraue, so Literaturfachmann Lettner.
Fünf Jahre nach Astrid Lindgrens Tod 2002 erschien eine Pippi-Ur-Fassung. Noch ungehobelter und dreister als jene, die man bereits kannte. Doch beim Wiederlesen einer Ausgabe von 1974, also einer Fassung, die vom Verlag ein bisschen „zurecht gebügelt“ worden war, stellt man erneut fest: Auch diese Pippi ist ziemlich außergewöhnlich. Bauernschlau und herrlich frech. Kein Wunder, dass manche sie für „jugendgefährdend“ hielten. Beispiel Schule: Das probiert sie genau einen Tag aus. Als die Lehrerin ihr Rechenaufgaben stellt, meint Pippi: „Das geht zu weit, meine kleine Alte.“
Trotz aller Widersprüche gilt die widerborstige Pippi mit ihrem Mut und ihrer Unangepasstheit mehr denn je als Vorbild in der Jugendliteratur. Schließlich war sie emanzipiert, als manche das Wort noch gar nicht kannten.
Die braven Nachbarn
Einst war sie der Schrecken der Bildungsbürger, die zu Hause lieber Thomas und Annika, Pippis brave Nachbarn gehabt hätten. Heute ist Pippi nicht nur, was Verkaufszahlen angeht, ewiger Bestseller. Die Figur des aufsässigen Mädchens, das sich nichts gefallen lässt, ist ein Evergreen. Doch wenige Figuren sind heute so ungezähmt, sagt Franz Lettner. Vielleicht auch, weil die Kinderliteratur von heute diese Revolte nicht mehr braucht. Brav sind die Kinder schon lang nicht mehr, zumindest nicht in Büchern.
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