MeToo in Kunst und Kultur: "Narrativ vom 'Genie' muss aufhören"
Im September nahm die neu geschaffene Vertrauensstelle vera* ihre Arbeit auf. Geschäftsführerin Marion Guerrero und Vorstandsvorsitzende Ulrike Kuner im Gespräch.
Ein MeToo-Posting von Regisseurin Katharina Mückstein (sowie unzählige Reaktionen) und die Vorwürfe gegen Ulrich Seidl lösten im Vorjahr eine Debatte über Machtmissbrauch, Übergriffe und (un)sichere Arbeitsbedingungen im Film aus. Bereits davor, im November 2021, war die Schaffung der Vertrauensstelle vera* gegen Gewalt und Belästigung in Kunst, Kultur und Sport beschlossen worden, die im Herbst 2022 ihre Arbeit aufnahm. Marion Guerrero (Geschäftsführerin) und Ulrike Kuner (Vorstandsvorsitzende und Geschäftsführerin der IG Freie Theaterarbeit) im Gespräch über die größten Problembereiche und die Rolle der Medien, über die Nennung konkreter Namen und Lösungsansätze.
KURIER: Wie kam es überhaupt zur Gründung von vera*?
Ulrike Kuner: Durch Erfahrungen aus der Beratungstätigkeit im Kunst- und Kulturbereich. Ich bin in meinem Hauptberuf Geschäftsführerin der IG Freie Theaterarbeit. Wir sind seit 1988 eine Interessengemeinschaft (IG), die sich für den Bereich Schauspiel, Theater, Tanz, Performance, Choreografie, Regie etc. engagiert. Auch aus den Bereichen Musik, Bildende Kunst, Kulturvermittlung usw. gibt es Interessensvertreterinnen. Wir sind schon sehr lange politisch aktiv und versuchen, die Rahmenbedingungen der Künstler und Künstlerinnen zu verbessern. Wir bieten Beratungen zu Sozialversicherung, Arbeitsrecht, Verträgen und dergleichen. Aber unsere Leute sind nicht dazu ausgebildet, mit Menschen zu arbeiten, die mit psychischer und physischer Gewalterfahrung konfrontiert wurden. So ist die Idee zu einer eigenen Anlaufstelle entstanden.
Wie haben Sie die Bedürfnislage recherchiert?
Kuner: Eine erste Phase widmete sich ausschließlich der Recherche und Erhebung von Bedürfnissen. Wir haben u.a. Fragebögen an die Mitglieder der einzelnen Interessensgemeinschaften ausgeschickt und sie nach ihren Gewalterfahrungen befragt. Es gab einen sehr großen Rücklauf. Etwa dreiviertel der Befragten gaben an, Gewalterfahrungen gemacht zu haben. Das traf auf den gesamten Kulturbereich zu, allerdings in jedem Genre ein bisschen anders. Sogar bei den Übersetzerinnen, die anfänglich gemeint haben, sie wären nicht davon betroffen, weil sie ja alleine arbeiten, wurden Gewalterfahrungen gemeldet. Immer dort, wo sich Menschen treffen, gibt es Hierarchien und – oft ältere – Menschen, die glauben, sie haben Positionen, in denen sie verbal oder physisch übergriffig werden können. Selbst erlebt habe ich z. B. anzügliche Witze im Lift – also auf engstem Raum, wobei der „Witze“ machende Mann diese Situation bewusst gewählt hatte. Und als Mitarbeiter:in konnte ich in dieser Situation weder weghören noch mich verbal wehren oder gehen. Schlimm ist es wohl leider auch in den Orchestern.
Was sind die häufigsten Beschwerden, die an vera* herangetragen werden?
Marion Guerrero: Das ist tatsächlich komplett unterschiedlich. Wir hatten bis jetzt noch keine zwei Fälle, die gleich waren, deswegen ist die Beratung auch so betreuungsintensiv – bis zu 40, 50 Stunden. Im Moment haben wir circa 30 offene Fälle aus unterschiedlichen Bereichen: Bildende Kunst, Musik, Literatur, Theater.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Guerrero: Wir sind zur Vertraulichkeit verpflichtet. Das Beispiel, das ich Ihnen gebe, ist erfunden, aber aus dem Leben gegriffen: Eine Person will in einem Museum oder einer Galerie ausstellen, doch der zuständige Kurator ist sehr übergriffig und verlangt im Gegenzug sexuelle Gefälligkeiten. Dann steht die betroffene Person vor dem Dilemma, dass sie einerseits ausstellen möchte, weil das eine wichtige Chance für ihre Karriere wäre, andererseits aber keineswegs belästigt werden möchte. Es geht also nicht nur darum, die Situation zu beenden, sondern auch, den weiteren beruflichen Werdegang nicht zu gefährden. Die Furcht ist groß, dass man als „schwierig“ innerhalb einer Szene verschrien wird, in der jeder jeden kennt.
Was kann vera* dann konkret tun?
Guerrero: Wenn sich eine betroffene Person an uns wendet, überlegen wir gemeinsam, was für Schritte wir setzen können. Das reicht von psychosozialer Unterstützung über Intervention bei der Leitung bis zur Vermittlung von juristischer Beratung. Wir sind im Moment noch keine Organisation, die Sanktionen setzen kann. Manchmal ist die Situation tatsächlich nicht im Sinne der betroffenen Person lösbar. Dann besteht unsere Aufgabe darin, diese Person zu begleiten und die schlimmsten Konsequenzen abzuwenden.
Wird der Täter konfrontiert?
Guerrero: Leider ist es sehr oft so, dass die betroffene Person gerechtfertigterweise davor Angst hat, wenn, wie in unserem Beispiel, der Kurator davon erfährt, dass sie sich gewehrt hat. Deshalb klären wir mit der betroffenen Person ab, ob es überhaupt Sinn machen würde, ihn zu konfrontieren.
Kuner: Am ärgsten ist es bei den Assistenzen im Theater, also bei Regieassistenz, Garderobenassistenz, Bühnenbildassistenz. Also jene, die zu schlechten Bedingungen ganz viel Arbeit leisten: Die Assistenzen müssen immer schon mindestens eine Stunde vor der Probe da sein und als Letztes gehen. Und sie müssen am meisten aushalten: Sie sind wie die Bandscheiben zwischen den einzelnen Akteuren und Akteurinnen, zwischen Regie und Schauspiel. Sie kriegen es von allen Seiten ab. Meistens kommt hinzu, dass sie oft noch sehr jung sind und nicht ernst genommen werden.
Wie ist das Geschlechterverhältnis bei den Fällen, die an Sie herangetragen werden?
Guerrero: Es melden sich definitiv mehr Frauen als Männer. Generell gibt es unterschiedliche Risikofaktoren, die Übergriffe begünstigen wie Gender und die Zugehörigkeit zu einer Minderheit. Und je prekärer das Beschäftigungsverhältnis, desto schwieriger ist es, sich zu wehren. Ein Risikofaktor ist auch, wenn man innerhalb eines Machtverhältnisses mit einer Person allein ist. Etwa, wenn ein Regisseur viele Einzelproben macht.
Wie kann mediale Berichterstattung dazu beitragen, zu sensibilisieren?
Kuner: Die Berichterstattung über das „Genie“ muss aufhören. Das Narrativ lautet ja noch immer: Künstlerische Arbeit braucht einen Leidensprozess. Oder dass man Menschen brechen muss, um das Beste aus ihnen herauszuholen. Am Ende steht dann der „geniale“ Regisseur, der das „Meisterwerk“ verantwortet. Tatsächlich aber holen wir das Beste aus uns heraus, wenn wir uns sicher fühlen und nicht, wenn wir gebrochen werden und an unsere physischen und psychischen Grenzen geführt werden.
Wäre es nicht auch sinnvoll, konkrete Namen zu nennen?
Guerrero: Wir haben gesehen, dass mutmaßliche Täter umgehend mit Rufschädigungsklagen drohen, sobald sich eine betroffene Person an die Medien wendet. Die Sorge davor ist groß: Denn wenn ich bereits mit einem Trauma kämpfe, dann auch noch mit einem Gerichtsprozess konfrontiert werde, ist das sehr schwierig. Natürlich wäre es manchmal sinnvoll, wenn die Öffentlichkeit davon erfährt und potenzielle Täter exponiert werden. Auf der anderen Seite lastet alles auf den Schultern einer Person, die im schlimmsten Fall schon Furchtbares erlebt hat.
Guerrero: Wir müssen an mehreren Strängen gleichzeitig ziehen. Zuerst muss man schauen, dass die Gesetze, die es gibt, auch tatsächlich angewendet werden: Dass man Institutionen, die einen guten Willen haben, dabei unterstützt, und diejenigen, die keinen guten Willen haben, dazu zwingt. Ein anderer Strang ist die verpflichtende Verknüpfung von Förderrichtlinien mit Gleichbehandlungs-, Antidiskriminierungs- und Gewaltschutzkonzepten. Und noch ein Strang wäre, Bewusstsein zu schaffen. An diesen Strängen muss man ziehen. Und wir als vera* müssen dazu beitragen, indem wir für alle Betroffenen da sind, Präventionsmaßnahmen anbieten und uns für Bewusstseinsschaffung engagieren. Was wir brauchen, ist ein Kulturwandel.
Kuner: Mit dem Fairness Codex steht seit Mai 2022 ein weiterer Hebel zur Verfügung. Dessen konsequente Umsetzung hat zum Ziel, für alle Beteiligten faire Arbeitsbedingungen zu etablieren. Da müssen jetzt alle Institutionen ran – und die Politik muss das Thema aufmerksam weiterverfolgen.
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