Terrorexperte Schmidinger: Dschihadisten-Szene wächst weiter

Thomas Schmidinger, Politikwissenschafter Universität Wien
Der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger fordert stärkere Präventionsmaßnahmen für potentielle IS-Sympathisanten.

Vergangene Woche wurde ein mutmaßlicher Terrorverdächtiger in Wien verhaftet, auch mögliche Komplizen in Deutschland. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr tatsächlich ein, die von diesem Mann ausgegangen ist?

Über den konkreten Fall kann ich aktuell auch nicht mehr sagen, als in den Medien kolportiert wird. Welches Gefahrenpotenzial wirklich vom Verdächtigen ausgegangen ist, werden wir erst im Prozess gegen ihn erfahren.

Aber wie es aussieht, war der Verdächtige ein IS-Sympathisant.

Seit dem Niedergang des IS in Syrien und im Irak greift er auf die alte Al-Qaida-Taktik zurück: Sie holen keine Anhänger mehr zum IS, sondern sie belassen sie in Europa, damit sie dort Anschläge zu verüben. Man hat das ja bei den Attentaten in Paris, Brüssel oder wie zuletzt in Berlin gesehen. Es kann als Fakt angenommen werden, dass in Europa IS-Leute operieren, die in größeren oder auch in kleineren und gut organisierten Gruppen Anschläge planen.

Wie kann es sein, dass ein knapp 18-Jähriger, der in Österreich geboren wurde, sich relativ schnell radikalisiert?

Wir wissen nicht, wie rasch er sich radikalisiert hat. Eine Radikalisierung ist immer ein Prozess, der nicht von heute auf morgen passiert. Das geht manchmal schneller, manchmal langsamer, findet aber nicht aufgrund eines singulären Ereignisses statt. Meistens handelt es sich um labile Persönlichkeiten, die für dschihadistische Radikalisierung vulnerabel sind. Im aktuellen Fall scheint es, dass der Verdächtige eine kleinkriminelle Vergangenheit hinter sich hatte. Er war kurz zuvor auch in Haft, und da ist es durchaus möglich, dass ihm die Begegnung mit dschihadistischen Brüdern im Gefängnis einen Halt gegeben hat, den er vorher nicht hatte, und dass er so den Weg in die islamistische Szene gefunden hat.

Er war in der Jugendstrafanstalt in Gerasdorf inhaftiert, es hat dort immer wieder Fälle von radikalisierten Jugendlichen gegeben. Wird gerade dort zu wenig auf Prävention geachtet?

Das will ich derzeit noch nicht in der Öffentlichkeit diskutieren. Das war eines der Themen der Studie, die ich gemeinsam mit Veronika Hofinger im Rahmen des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie im Auftrag des Justizministeriums vor Kurzem abgeschlossen habe. Das Justizministerium hat sie bereits und dort wird entschieden, wann und wie sie veröffentlicht wird. (Mittlerweile wurde die Studie präsentiert, Anm. der Redaktion vom 31.1.) Es macht Sinn, so eine Studie zuerst mit den Betroffenen zu diskutieren, bevor man sie in einer breiteren Öffentlichkeit debattiert.

Aber die Präventionsmaßnahmen reichen anscheinend nicht aus, sonst würde es nicht immer wieder zu diesen Fällen kommen.

Ich kann nur so viel sagen, dass man sich auch im Ministerium selbst bewusst ist, dass es hier eine mögliche Problematik gibt, sonst wäre ja auch diese Begleitstudie nicht in Auftrag gegeben worden. Die Szene verändert sich und auch die Herausforderungen für den Strafvollzug ändern sich damit. Es ist naheliegend, dass es für den Strafvollzug nicht einfach ist, wenn es einen relativ raschen Anstieg an dschihadistischen Gefangenen gibt; und dass man hier auch ständig neu evaluieren muss, ob die gesetzten Maßnahmen wirken.

Übersetzt heißt das, ja, es gibt Probleme.

Überall in Europa bedeutet das eine Herausforderung für den Strafvollzug, in einigen Staaten noch deutlich mehr als in Österreich. Aber die konkreten Probleme werden wohl bald anhand unserer Studie diskutiert werden können.

Wie hoch schätzen Sie die Anzahl von IS- oder Al-Qaida-Anhängern in Österreich ein?

Das breitere Umfeld der dschihadistischen Szene, also der politische Salafismus, umfasst einige tausend Personen. Das engere Umfeld, im Sinne von Personen, die wirklich in Kontakt mit organisierten dschihadistischen Netzwerken stehen, dürfte mit einigen Hunderten zu beziffern sein. Dazu zählen Rückkehrer, aber auch Personen, die sich hier radikalisiert haben. Die Zentren sind Wien, Graz, Oberösterreich und Vorarlberg. Es sind aber keineswegs nur große Städte davon betroffen, sondern auch teilweise ländliche und kleinstädtische Regionen.

Ist die Szene größer geworden?

Die Szene wächst grundsätzlich weiter, allerdings nicht so schnell wie 2014, während der Hochphase des so genannten „Islamischen Staates“. Zudem ist die Szene heute wesentlich diversifizierter beziehungsweise zerstrittener. Zwischen Gruppen, die dem IS, der Al-Qaida oder anderen Strömungen des Dschihadismus nahestehen, gibt es mittlerweile unübersehbare Konflikte.

Welche Gründe gibt es für den Zulauf?

Der Dschihadismus scheint weiterhin eine attraktive Antwort für viele entfremdete Jugendliche und junge Erwachsene darzustellen, die aus unterschiedlichsten Gründen dieser Gesellschaft den Krieg erklären wollen. Es gibt nicht eine singuläre Erklärung für die Attraktivität extremistischer Ideologien. Letztlich ist die Entsolidarisierung und Vereinsamung in unserer Gesellschaft aber einer der Gründe, warum insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene starke Entfremdungserfahrungen erleben, die sie für extremistische identitätsstiftende Ideologien und Gruppierungen, die ihnen Sinn und Zugehörigkeit vermitteln, empfänglich machen.

Die von Ihnen angesprochenen "Gefährder" sind in der Regel relativ gut vernetzt - reichen gegenwärtig die Überwachungsmaßnahmen von Polizei und Verfassungsschutz aus?

Aus meiner Sicht: Ja. Aber das Problem lässt sich nicht alleine mit Überwachung lösen oder gar unter Kontrolle bringen. Es gibt ja jetzt schon das Phänomen, das wir vor allem aus den USA kennen, dass man aufgrund zu vieler Informationen die relevanten nicht mehr von den weniger relevanten Informationen auseinanderhalten kann. Auch in Deutschland hat der Anschlag in Berlin aufgezeigt, dass man vor dem Attentat relativ viel über die Person wusste, aber den Anschlag dennoch nicht verhindern konnte.

Aber die Diskussion nach noch mehr Überwachung wird nach der Verhaftung des mutmaßlichen Attentäters wieder beginnen.

Ja, aber es braucht auch andere Maßnahmen, dazu zählen mehr Prävention, Deradikalisierungsmaßnahmen und, was die Polizeiarbeit betrifft, mehr „Community-Policing“ und gut ausgebildete Beamte, die auch Sprachkenntnisse von bekannten Communities, wie Arabisch, Türkisch, Tschetschenisch etc. verstehen und sprechen können. Das halte ich für viel wichtiger als noch mehr Überwachung.

Sind Moscheen für die Radikalisierung von Jugendlichen eigentlich noch ein Problem, oder hat man die früheren „Problem-Gebetshäuser“ mittlerweile unter Kontrolle?

Der große Verfolgungsdruck der Polizei hat dazu geführt, dass ein Teil der Szene mittlerweile in den Untergrund abgewandert ist. Das hat natürlich auch Nachteile. Solange diese Moscheen existierten, hatte man die Szene besser im Blick, heute treffen sich die Leute nicht mehr primär in den Gebetshäusern, sondern in privaten Wohnungen oder in Parks. Das macht die Überwachung schwieriger. Vereinzelt gibt es noch Moscheen, wo sich die dschihadistische Szene trifft, die bekannteste dieser Moscheen in der Nähe des Pratersterns ist aber schon länger geschlossen und einige Prediger befinden sich in Haft.

Durch die Anschläge in Europa steht der Islam unter Generalverdacht. Muslimen wird vorgeworfen, dass sie sich zu lasch gegen den radikalen Islam stellen. Sind die muslimischen Verbände tatsächlich zu passiv?

Die meisten muslimischen Verbände sind entgegen der öffentlichen Meinung organisatorisch einfach zu schwach, sie haben wenig Einfluss auf gefährdete Jugendliche. Und Dschihadisten positionieren sich ja in Opposition zu diesen Verbänden und nutzen diese Schwächen aus. Bei den Verbänden sehe ich große Hilf- und Ratlosigkeit. Es bringt auch relativ wenig, wenn es dauernd Demonstrationen von muslimischen Verbänden geben würde. Natürlich könnte man sich die eine oder andere deutliche Stellungnahme wünschen, aber das löst das Kernproblem nicht.

Wo orten Sie die Kernprobleme?

Was sie wirklich machen könnten, wo sie aber Unterstützung brauchen, wäre die Bekämpfung von manchen Ursachen der Entfremdung ihrer eigenen Jugendlichen, die sich anfällig für radikale Strömungen zeigen. Man muss schauen, wie man diese Jugendlichen stärken kann, wie man sie unterstützt, wie sie mit sozialen Problemen innerhalb der Gemeinschaft und in den Familien umgehen lernen. Wie in den Communities mit Kriegstraumata, aber auch mit den Herausforderungen für Jugendliche in einer pluralistischen Gesellschaft, mit den Themen Sexualität von Jugendlichen und so weiter umgegangen wird, ist sicher problematisch. Aber die muslimischen Verbände sind hier auch vielfach nicht in der Lage, etwas zu verändern, weil ihre Mitglieder und Funktionäre jetzt auch keine Intellektuellen sind, sondern oft aus einfachsten Verhältnissen stammen und auf wenig Unterstützung zurückgreifen können.

Aber müssen wir damit rechnen, dass noch mehr Jugendliche Bombenpläne in ihren Schubladen haben und für Anschläge und Attentate bereit stehen?

Ja, das müssen wir. Das Problem wird nicht von heute auf morgen verschwinden. Wir können verhindern, dass dschihadistischer Terror seine politischen Ziele erreicht. Den Terror selbst werden wir nicht immer verhindern können.

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