Faktencheck: Wie behindertenfeindlich ist Österreich?
Ist „Licht ins Dunkel“ behindertenfeindlich? Kritik an der ORF-Spendenaktion kommt von Betroffenen. Behinderte seien keine Almosenempfänger, sondern hätten Rechte, sagen sie. Österreich sei säumig beim Umsetzen der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Was ist dran an der Kritik?
Budget aufgestockt
Das Sozialministerium entgegnet, 2023 werde das Budget für Menschen mit Behinderung um 30 Millionen auf 340 Millionen Euro aufgestockt. Mit den zusätzlichen Mitteln soll die berufliche Teilhabe von Frauen mit Behinderungen gefördert werden. Weiterer Schwerpunkt 2023 ist die Umsetzung des „Nationalen Aktionsplans Behinderung 2022–2030“, der im Juli im Ministerrat beschlossen wurde. Dieser NAP dient der Umsetzung der UN-Behindertenkonvention. Dafür stehen 2023 und 2024 jeweils 50 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung.
Barrierefreie Automaten
Auf dem Weg ins Parlament befindet sich ein Gesetz für den barrierefreien Zugang zu Computer, Smartphones, E-Books, Bankomaten, Fahrkartenautomaten, E-Banking und weiteren Produkten und Dienstleistungen. Dies ermöglicht insbesondere blinden, sehbehinderten und gehörlosen Personen, vor allem auch vielen älteren Menschen, IT-Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu nutzen. „Durch all diese Maßnahmen setzen wir zentrale Meilensteine für die Behindertenpolitik der nächsten Jahre in Österreich“, sagt Sozialminister Johannes Rauch.
Minister zur Kritik an "Licht ins Dunkel"
Zur Kritik an „Licht ins Dunkel“ meint der Minister: „In Zeiten von multiplen Krisen ist es essenziell, dass wir besonders auf jene schauen, denen es nicht so gut geht – und die oftmals durch tragische Schicksale im Leben vor besondere Herausforderungen gestellt werden. Seit nun fünfzig Jahren schaut ‚Licht ins Dunkel‘ dorthin, wo wir als Gesellschaft oftmals zu selten hinsehen und leistet damit einen großen gesellschaftlichen Beitrag.“
Es liege aber an allen, „das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen mit aller Kraft zu verfolgen und die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen“.
Betroffene
18,4 Prozent der Wohnbevölkerung leben mit einer Behinderung, das sind 1,3 Millionen Personen
Vertreter
Der Behindertenrat vertritt mehr als 80 Mitgliedsorganisationen in Österreich und setzt sich für
die Rechte von Menschen mit
Behinderungen ein
Rechtslage
Die UN-Behindertenkonvention wird mittels eines „Nationalen Aktionsplans“ bis 2030 in Österreich umgesetzt
"Forderung der Abschaffung"
„Seit vielen Jahren wird die Grundausrichtung von Licht ins Dunkel thematisiert. Im Gegensatz zu Kampagnen im Ausland wehrt sich der ORF nachhaltig gegen einen Veränderungsprozess“, sagt Martin Ladstätter, Obmann von „Bizeps – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben“. „Wenn keine Meinungsänderung erfolgt, bleibt nur die Forderung der Abschaffung.“ Statt einer Symptombekämpfung sollte die Aufmerksamkeit auf die Bekämpfung der Missstände gelegt werden.
Nachholbedarf bei Menschenrechten
„Eine zeitgemäße Kampagne würde grundrechtsorientiert agieren und vom reinen Spendensammeln weggehen.“
Österreich sei stolz auf seinen Sozialstaat, deutlicher Nachholbedarf bestehe bei der Einhaltung von Menschenrechten. „Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen schreibt unter anderem Barrierefreiheit, Inklusion im Bildungsbereich und Arbeitsbereich, Gleichstellung und vieles mehr vor.
Trotzdem wird Schülerinnen und Schülern noch immer Bildung vorenthalten, werden noch immer auch neue Gebäude nicht barrierefrei gebaut, Restaurants ohne barrierefreie WCs eröffnet oder Internetseiten teilweise so ausgestaltet, dass sie für sehbehinderte oder blinde Menschen kaum nutzbar sind oder wird in vielen Bereichen Menschen, die auf die Österreichische Gebärdensprache angewiesen sind, diese verwehrt.“
Öffentliche Gebäude
Seit einem Monat kämpft der im Rollstuhl sitzende Student Philipp Muerling darum, die Akademie der Bildenden Künste barrierefrei zu machen. In einer Protestaktion zieht er sich dafür an der Treppe des Haupteingangs hoch.
Einzelfall ist er keiner: Menschen mit Behinderung sind fast täglich mit fehlender Barrierefreiheit konfrontiert, heißt es aus dem Behindertenberatungszentrum „Bizeps“. Die Annahme, dass beeinträchtigte Menschen eine Minderheit sind, für die sich ein Mehraufwand nicht lohne, sei nur einer der verantwortlichen Gründe. In der Gastronomie und im Straßenbau etwa fehle häufig das Bewusstsein. Dabei würde es oft reichen, eine barrierefreie Toilette mitzudenken, oder die Blindenleitlinien auf den Straßen ordentlich instand zu halten, heißt es bei „Bizeps“.
Denkmalschutz als Argument
Bei öffentlichen Gebäuden – wie der Akademie der Bildenden Künste – werde dagegen häufig auf den Denkmalschutz verwiesen. Schwierig sei es etwa bei Kirchen: „Die haben fast immer Stufen beim Eingang“, sagt Wolfgang Salcher vom Landeskonservatorat Wien. Dabei ist Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden im Bundesgesetz verankert. Und auch deren Umsetzung wäre technisch mittlerweile fast überall möglich, sagt Salcher.
So auch im Fall von Muerling: Laut Vizerektor arbeite man derzeit mit Hochdruck an einer Lösung.
Job bieten oder Ausgleichstaxe zahlen
Laut Behinderteneinstellungsgesetz im Verantwortungsbereich von Sozialminister Rauch (Bild) sind alle Unternehmen mit mehr als 25 Beschäftigten verpflichtet, für jeweils 25 Dienstnehmer einen begünstigten Behinderten einzustellen. Angestellte mit besonders schweren Behinderungen (z. B. blinde Personen, Rollstuhlfahrer) werden auf die Pflichtzahl doppelt angerechnet.
Für die Einstellung von begünstigten Behinderten (Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent) wird der Dienstgeber von der Kommunalsteuer, der Abgabe zum Familienlastenausgleichsfonds, der Handelskammerumlage und in Wien von der U-Bahn-Steuer befreit.
Nicht freiwillig
Dennoch zahlen viele Unternehmen lieber die sogenannte Ausgleichstaxe für jeden nicht eingestellten Menschen mit Behinderung. Sie beträgt 276 Euro pro Monat und offener Pflichtstelle in Betrieben bis zu 99 Beschäftigten. In Betrieben bis 399 Beschäftigten beträgt sie 388 Euro, darüber 411 Euro. Ein Betrieb mit 200 Beschäftigten müsste also 8 Menschen mit Behinderung einstellen oder monatlich 3.104 Euro „Strafe“ zahlen.
Österreich ist ein Land der Klein- und Kleinstbetriebe. Das hat zur Folge, dass mehr als 90 Prozent aller Firmen gar keine Menschen mit Behinderungen einstellen müssen – und es oft genug auch freiwillig nicht machen. Miba
„Vorurteile erschweren Inklusion“
Mehr als 18 Prozent der Bevölkerung in Österreich hat laut Statistik Austria eine Behinderung – dennoch werde nur wenig über Menschen mit Behinderung und inklusionsrelevante Themen berichtet, erklärt Politik- und Medienanalytikerin Maria Pernegger. Sie hat im Zeitraum 2015/16 die Situation in österreichische Medien untersucht, eine neue Studie über 2021/22 ist in Arbeit.
Opfer vs. Helden
„Wenn Medien über Menschen mit Behinderung berichten, dann verfallen sie oft in Muster“, so Pernegger. „Zum einen gibt es eine Opferorientierung: Menschen mit Behinderung werden als bemitleidenswerte Gruppe dargestellt, für die man spenden müsse.“ Andererseits gebe es eine „Heldenerzählung“ über Menschen, die trotz Behinderung viel geschafft hätten: „Das klassische Beispiel ist der paralympische Sportler, der einen Weltrekord aufstellt.“
Diese Geschichten seien gut vermarktbar – würden jedoch ein stereotypes Bild von Behinderung fördern. „Das erzeugt Vorurteile und Ängste, die Inklusion erschweren.“
Themen wie barrierefreies Wohnen, Inklusion in Schulen oder finanzielle Absicherung kämen oft zu kurz, wären aber für Redaktionen lohnend, da Menschen mit Behinderung eine große Gruppe sind. Wichtig sei u. a., Experten aus dem Bereich und Menschen mit Behinderung selbst zu befragen: „Damit nicht nur über sie gesprochen wird, sondern auch mit ihnen.“
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