Hengstschläger: Was Corona mit Rauchern und digitalem Wandel zu tun hat
Der Vergleich der Raucherdebatte mit der Diskussion um die Freiheit von Geimpften ist gewagt: „Wenn Sie jetzt in ein öffentliches Gebäude gehen und eine Zigarette anzünden, dann wird man Sie daran erinnern, dass Sie zwar rauchen dürfen, aber nicht in diesem Gebäude, weil Sie hier die Gesundheit von anderen gefährden könnten“, sagt der Genetiker und Bestsellerautor Prof. Markus Hengstschläger. Doch was bedeutet Freiheit überhaupt? Was macht Corona mit uns als Gesellschaft? Und was können wir daraus lernen?
KURIER: Ist es gerecht und legitim, dass man zuerst die Alten und Vulnerablen impft und nicht jene mit den meisten Kontakten? Wie sehen Sie das?
Markus Hengstschläger: Der Mensch ist grundsätzlich ein vernunftbegabtes Wesen, sehr sozial und lösungsbegabt. Das ist im Wesentlichen das, was den Menschen ausmacht. Er muss sich aber auch vielleicht öfter darauf besinnen. Der Mensch ist zusätzlich auch ein Wesen, das Wut und Angst kennt. Bei den angesprochenen Fragen sollte er aber bei den Fakten bleiben und an die Vernunft appellieren, nicht an die Emotionen. Ich sage das deshalb, weil viele der Entscheidungen, die wir jetzt mitbekommen, davon geprägt sind. Daher ist mein Appell, jetzt Vernunft walten zu lassen – das ist auch nachhaltig für später, wenn es darum geht zu analysieren, wie es eigentlich gelaufen ist.
Was ist aus Sicht der Vernunft denn der bessere Weg?
Neben den Fragen zu den Impfstoffen, ihrer Zulassung oder der Logistik geht es auch um die Wirkung. Und zwar meine ich jetzt nicht die Impfstoff-Wirkung, sondern die Wirkung in der Gesellschaft. Da ist es logisch, dass vulnerable Gruppen wie Hochrisikogruppen, jene mit einer besonderen Exponiertheit etc. jetzt vorgereiht werden. Das machen wir nicht nur in Österreich so, sondern das macht man ja weltweit.
Ich hoffe, dass diese Vernunftorientierung auch anhält, wenn es immer mehr werden, die geimpft sind. Offen ist ja, wie viele sich am Ende des Tages wirklich impfen lassen. Und wie schnell wir ein Stadium erreichen, wo wir davon sprechen können, dass wir das Gröbste hinter uns haben. Es wird ja nicht einfacher.
Welche Rolle spielen dabei Politik und Wissenschaft?
Das Wichtigste sind jetzt Fakten, Transparenz und Ehrlichkeit. Das Virus trifft jetzt auf eine andere Gesellschaft, als am Anfang der Pandemie. Um mit möglichst allen Menschen weiterhin vernunftorientiert durch diese Phase zu gehen und motiviert zu bleiben, sich nicht in eine Mitmachkrise zu verabschieden, braucht es ein: Ich sage ehrlich, was ich weiß und ich sage ehrlich, was ich nicht weiß. Ich lege die Fakten immer schnell auf den Tisch und ich bleibe hoch transparent mit dem, was ich tue.
Und die Wissenschaft muss das genauso tun. Die Wissenschaft ist ja in keiner Art und Weise dazu da, die Menschen zu unterhalten. Sie kann es wahrscheinlich nicht einmal wirklich gut. Die Wissenschaft schafft Wissen und Fakten.
Im Rahmen dieser Entscheidungen scheint die gesellschaftliche Kluft zwischen Alt und Jung oder auch zwischen Geimpften und Ungeimpften größer zu werden. Wie kann man dem begegnen?
Das sind Themen, die es immer gegeben hat. Nicht nur in Österreich, sondern global leben wir leider in Gesellschaften, wo es Kluften gibt. Und die werden durch so eine Pandemie nicht kleiner. Es werden im Wesentlichen oft aber nicht andere. Es ist ja ein großes Glück, dass die Pandemie uns in Zeiten der digitalen Transformation trifft, weil wir ja jetzt sehr einfach kommunizieren können. Wir können Dinge im Internet bestellen, es gibt die Möglichkeit von Home Office, Distance Learning, etc.
Aber wir wissen, dass der digitale Wandel zum Beispiel schon vor der Pandemie so manche ähnliche Frage aufgeworfen hat: Wer wird denn eventuell jetzt abgehängt? Welche Jobs werden jetzt verändert? Wer sind die Gewinner dieser digitalen Transformation? Wie ist das mit der digitalen Bildung? Gibt es da jetzt den gleichen fairen Zugang zu alldem? Wie sieht es mit digitaler Ethik aus? Und jetzt haben wir, im Zusammenhang mit der Pandemie, viele ganz ähnliche Fragen und Diskussionen. Wer verliert dabei mehr als andere, wer wird wann geimpft, wer hat welchen Zugang wozu, etc. Das sind Fragen, die wir bei Veränderungen und Transformationsprozessen immer haben.
Wie lautet die Antwort auf diese Fragen?
Wir haben ja in der Pandemie schon erlebt, dass die Zahlen nach unten gehen können wenn der Mensch genau das gemacht hat, was ihn in der Evolution so auszeichnet - seine Vernunftbegabung, sein soziales Wesen auszuspielen und zusammenzuhalten. Ich habe mit meinem letzten Buch auch einen Begriff geprägt, die Lösungsbegabung – diese grundsätzliche, auch genetisch mit angelegte Begabung, kann aber nur dann umgesetzt werden, wenn wir sie auch durch Wissenserwerb und Üben entwickeln und aktiv halten. Diese Lösungsbegabung brauchen wir auch nach der Pandemie für viele Themen, die vor der Tür stehen und teilweise ähnliche Fragestellungen aufwerfen.
Hat die Pandemie also auch positive Seiten?
Natürlich kann man einer Pandemie auch Gutes abgewinnen. Ich bin noch immer hauptsächlich damit beschäftigt, mir Gedanken über die negativen Seiten zu machen. Aber irgendwann werden wir uns hinsetzen und fragen: Was kann man daraus lernen? Die digitale Transformation hat zum Beispiel sicherlich, was ihre Vorteile anbelangt, jetzt viel mehr Sichtbarkeit erlangt. Sie hat auch die Gesellschaft viel mehr durchdrungen. Das haben wir gerade in Österreich erlebt, zum Beispiel an den Universitäten. Ich halte meine Vorlesungen online, wir halten unsere Konferenzen online und so weiter. Das gab es vorher auch, aber nicht in diesem Ausmaß.
Was man mitnehmen und hoffentlich auf andere Probleme anwenden kann: Wir haben in der Pandemie gesehen, der Beitrag jeder und jedes Einzelnen hat einen Unterschied gemacht – die Lösung ist nur im Kollektiv zu erreichen. Das zeigt uns für die Zukunft, dass, ob es um Klimawandel, Flüchtlingsthemen oder etwa Rassismus geht, der Beitrag jedes Einzelnen etwas ausmacht und wirklich zählt.
Bei der Impfung spielen ja auch ganz viele Ängste mit. Zuerst wollten ganz viele nicht mitmachen, jetzt scheint die Zustimmung immer größer zu werden - gleichzeitig schwelt aber die Angst vor einem Impfzwang. Wo sind die Grenzen bei der Freiheitsbeschränkung? Es heißt ja, niemand wird gezwungen, aber man darf ohne Impfung vielleicht nicht reisen. Was heißt das für den Job – wird man gekündigt oder bekommt man einen Job nicht ohne Impfung?
Der Mensch hat Angst und Furcht in sich evolutionär manifestiert. Er hat auch Jahrtausende Jahre alte Ängste. Und die komplett loszuwerden, wäre nicht unbedingt der richtige Ansatz. Wir fürchten uns vor konkreten Dingen wie beispielsweise einer Spinne, aber man hat Angst vor diffusen, nicht so konkreten Dingen. Diese Gefühle sind existenziell – ohne diese würden wir nicht so sein wie wir sind.
In Situationen, wo gewisse Bedrohungen vor uns liegen, wird der Körper dadurch in einen Zustand hoch fokussierten, schnellen Denkens versetzt. Das ist etwas, was wichtig ist, wenn es um Entscheidungen und Lösungen geht.
Wenn wir in einer Pandemie mutig agieren müssen, dann heißt das ja nicht, dass wir das völlig ohne Angst oder Furcht tun müssen. Angst und Furcht garantieren den Abwägungsprozess, wenn man Neuland betreten muss. Wenn man jetzt Veränderungen im Job erlebt, wenn man sein privates Leben auch anpassen musste und so weiter. Selbst bei einer Impfung, bei allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, bei Medikamenten, etc.
Was ist mit der Freiheit?
Es gibt diesen Begriff Freiheit von etwas und Freiheit zu etwas. Und im Sinne von Immanuel Kant: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Das ist etwas, dessen wir uns gerade in Zeiten von Pandemien besinnen müssen. Es ist ja bei der Raucher-Diskussion zum Beispiel auch nicht darum gegangen zu sagen, du darfst nicht rauchen. Es ist darum gegangen, dass, wenn man als Raucherin, als Raucher jemanden anderen gefährdet, dann ist dieser Freiheitsrahmen überschritten.
Wir wollen eine möglichst hohe Freiheit von Faktoren von außen - Staat, Gesetze, was auch immer, weil diese Form von Freiheit natürlich die Entfaltung von Lösungsbegabung ermöglicht.
Aber dann gibt es diese Freiheit zu etwas und die bedeutet, dass, wenn ich jetzt die Freiheit von etwas habe, dann sollte ich diese Freiheit auch mit Inhalten füllen. Man könnte sagen: Jetzt hast du die Freiheit, dann mach etwas damit, es geht darum Verantwortung zu übernehmen, einen Beitrag zu leisten, zur Lösung beizutragen, sich nicht in die Mitmachkrise zu verabschieden.
Und dann geht es eben auch noch um die Frage, ob ich mit meiner Freiheit an die Grenzen der Freiheit von anderen stoße. Das ist das Thema. Und wenn ich das tue, muss ich mir das überlegen. Übrigens ist dieses Konzept immer anwendbar, zum Beispiel auch bei der Reisethematik. Immer dann, wenn es um die Berührung mit den Grenzen anderer, mit der Freiheit von anderen geht, muss man das diskutieren.
Und da sollte es dann eine Impfpflicht geben?
Ich bin der Ansicht, dass es hier eine Verantwortung gibt. Freiheit ist Verantwortung. Aus meiner Sicht ist eine allgemeine Impfpflicht sicher nicht der richtige Ansatz. Aber der richtige Ansatz wäre, darüber nachzudenken, wo ist diese Grenze so weit überschritten oder wo berühre ich diese Grenze von anderen, wo ich zum Beispiel andere in Gefahr bringe.
Wenn Sie jetzt in ein öffentliches Gebäude gehen und eine Zigarette anzünden, dann wird man Sie daran erinnern, dass Sie zwar rauchen dürfen, aber nicht in diesem Gebäude, weil hier die Gefahr besteht, dass Sie die Gesundheit von anderen gefährden. Übrigens hat es dort ja auch einen langen Diskussionsprozess gebraucht. Da gab es auch nicht eine flächendeckende Akzeptanz, aber trotzdem haben wir uns durchgerungen zu sagen: Ja, es gibt Situationen und Umstände, wo man eine Regel aufstellen muss.
Insofern wäre es in Ordnung, Impfverweigerern zu sagen, dass sie gewisse Dinge nicht tun können, weil sie damit die Freiheit anderer berühren?
Ich bin, wie gesagt, gegen eine Impfpflicht. Und es geht nicht um Emotionen, sondern es geht um die Vernunft zu sagen: Naja, es gibt hier vielleicht einfach Grenzen anderer, die du berührst. Ich würde trotzdem sagen, dass man hier ganz hoch individualisiert vorgehen muss. Das ist eben die Aufgabe einer Demokratie, nämlich das ganze Spektrum abzubilden. Man muss sich das wirklich sehr, sehr individuell überlegen, wo könnte das überhaupt ein Ansatz sein und wo nicht?
Was macht es denn mit den Menschen, wenn sie in Gruppen eingeteilt werden? Das ist ja gesellschaftlich auch sehr brisant zurzeit.
Das Interessante ist ja, jeder und jede hat verschiedene und gleichzeitig vorhandene Identitäten. Also ich bin ein Wissenschafter, ein Österreicher, ein Vater und so weiter. Das Interessante ist, dass auch das Virus Covid-Sars-2 gewissermaßen Gruppen bildet.
Das Virus trifft heute auf eine andere Gesellschaft, als am Anfang der Pandemie, weil es jetzt Gruppen gibt – und zwar in Bezug auf das Virus. Es gibt die Geimpften und die nicht Geimpften. Es gibt die, die es schon hatten, und die, die es noch nicht hatten. Und es gibt die wirtschaftlich davon negativ Beeinträchtigten, es gibt die wirtschaftlich Nicht-Betroffenen und jene, die wirtschaftlich sogar davon profitiert haben. Es gibt diejenigen, für die das psychisch nicht so eine Belastung ist und diejenigen, für die es psychisch eine riesige Belastung ist und so weiter.
Und genau diese Gruppenbildung erschwert diesen kollektiven Lösungsprozess, der jetzt so wichtig ist, wo sich jede und jeder Einzelne einbringen muss. Man könnte die Meinung vertreten es gibt im Wesentlichen für die Zukunft der Bewältigung dieser Pandemie und auch für die Zukunft vieler anderer globaler Herausforderungen drei Typen von Menschen – wohl wissentlich, dass es unzählige Übergänge und wahrscheinlich auch viel mehr Gruppen gibt:
- Die blauäugigen Optimisten.
Das sind diejenigen, die sagen, es wird sich schon ausgehen. Es ist sich doch immer ausgegangen und es wird sich auch diesmal ohne meinen Beitrag ausgehen. Die werden das schon machen - mit die sind immer die anderen gemeint. Die Wissenschaft, die Politik sollen das machen und wenn es so weit ist, sollen sie mich informieren. Diese blauäugigen Optimisten befinden sich in einer Mitmachkrise. Die gibt es in Unternehmen, in der Gesellschaft, die gibt's überall. Und die gibt es leider immer.
- Die eingefleischten Pessimisten
Die zweite große Gruppe sagt, das geht sich sowieso nicht mehr aus. Die sagen, mein Beitrag zahlt sich nicht aus – das hilft jetzt auch nichts mehr. Und die sehen vieler dieser Themen so - Flüchtlingskrise, Pandemie, Terrorismus, Rassismus, Klimawandel und so weiter. Sie begründen das nicht selten mit dem Satz: Der Mensch sei nun einmal im Grunde schlecht. Das sei Biologie, Evolution. Nur der Stärkste, nur der Machtgierigste, nur der Selbstsüchtigste etc. setzt sich durch. Das stimmt aber so nicht. Als Biologe sage ich auch dazu, der Mensch ist das Produkt aus Genetik, Umwelt und Epigenetik. Das bedeutet, wir haben sehr, sehr viel selbst in der Hand - gerade wenn es um Themen wie Lösungsbegabung geht. Das ist nicht nur eine Chance, sondern auch eine Verantwortung. Ich bin nicht auf meine Gene reduzierbar, Gene sind nur Bleistift und Papier - die Geschichte schreibe ich selbst.
- Die Ermöglicher
Um die geht es jetzt, wenn es etwa um die Impfung und um die Bewältigung der Pandemie geht. Die Pandemie hat die Wirksamkeit des Individuums als Akteur für globale Fragestellungen klar gezeigt. Diese Gruppe der Possibilisten sagt: Einfach ist eine Pandemie nicht zu bewältigen und einfach ist etwa auch eine Klimakrise nicht zu meistern, aber einfach war es doch für die Menschheit noch nie. Wenn aber das Individuum hier einen Beitrag leistet, dann mündet das in eine kollektive Lösungsbegabung. Das sind Menschen, die sagen: Die Menschheit hat schon so viele Probleme gelöst und wir werden auch diese Pandemie bewältigen.
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