Otto F. Kernberg ist der bekannteste praktizierende Psychiater der Welt. Kernberg musste als Kind vor den Nazis aus Wien fliehen, kam zunächst nach Chile und später nach New York. Seine Praxis hat der Narzissmus-Experte unweit des Trump-Towers. Der KURIER hat Kernberg via Video-Call in seiner Wohnung in Manhattan erreicht, von wo aus er seit Beginn der Pandemie arbeitet.
KURIER: Die Pandemie bringt auch eine Konfrontation mit Krankheit und Tod. Haben wir jemals gelernt, den Tod zu akzeptieren?
Otto F. Kernberg: Es ist die Aufgabe eines jeden Menschen, sich mit dem Tod zurechtzufinden. Zunächst aber müssen wir uns damit zurechtfinden, dass wir überhaupt am Leben sind, denn wir haben uns das nicht ausgesucht. Zu akzeptieren, dass dieses Leben einmal ein Ende nehmen wird, sich jedoch davon nicht kontrollieren zu lassen, ist eine Lebensaufgabe. Man will ja nicht ständig an den Tod denken. Andererseits müssen wir die Beschränktheit unseres Daseins als wichtigen Aspekt des Lebens selbst sehen. Dass wir eine bestimmte Zeit haben, die gut ausgenützt werden muss. Der Tod kann sehr erschreckend sein, wenn man das Gefühl hat, es ist zu Ende, bevor man die Gelegenheit hat, das Leben zu genießen. Wenn man die Sicherheit hat, dass man voll gelebt hat, kann man dem Tod ruhig entgegenblicken. Mit dem, was man geschaffen hat und mit der Verbindung zu jenen, die man liebt, und die weiterleben wird. Diese Kontinuität der Beziehungen erlaubt es, dem Sterben ohne Panik entgegenzusehen. Dazu gehört aber persönliche Reife.
Sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, gehört zur psychologischen Entwicklung?
Ja. Dazu kommt das Überleben der eigenen Persönlichkeit in der Erinnerung jener, mit denen man eine intime, liebevolle Beziehung hatte. Auch Religion hat da eine fundamentale Funktion. Der Glaube an das Weiterbestehen des Geistes nach dem Tod ist ein Ausdruck dieser Kontinuität. Auch der Wertesysteme, mit denen man sich identifiziert hat und die weiterleben werden. Tod hat also mit Reife und psychologischer Entwicklung zu tun. Und der äußeren Realität, inmitten einer liebevollen Umgebung zu sein. Beides zusammen verstärkt sowohl den Sinn des Lebens als auch die Toleranz der Idee des eigenen Todes. Sich mit Kindern, Freunden, und seiner persönlichen Umwelt so zu identifizieren, dass man durch sie weiter am Leben ist und akzeptieren kann, ein kleiner Teil der Geschichte gewesen zu sein.
Der Tod ist durch die Pandemie näher in unser Bewusstsein gedrungen. Was macht das mit uns?
In den USA ist die Pandemie völlig verpolitisiert. Schon das Maskentragen ist ein Politikum. Trump-Anhänger tragen keine Masken und glauben einfach nicht an die Gefährlichkeit dieser Krankheit. Seine eigene Erkrankung und der Umgang damit haben ihr Übriges getan. Dadurch sind die Konsequenzen von Krankheit und Tod in den Hintergrund geraten.
Viele Ihrer Berufskollegen bezeichnen Trump als Narzissten.
Zunächst muss man zwischen normalem und krankhaftem Narzissmus unterscheiden. Zu Ersterem gehören Selbstsicherheit und die Unabhängigkeit von der Meinung anderer. Pathologisch wird es, wenn jemand ein verzerrtes Selbstgefühl hat. Dann sprechen wir von narzisstischer Persönlichkeitsstörung. Darunter leidet ein Mensch, der im Kern seines Ichs verunsichert ist und dauernd Beifall braucht, ohne je befriedigt zu sein. Er versucht, sein brüchiges Selbstwertgefühl zu kompensieren, indem er stets anderen überlegen sein will und dabei den Bezug zur Realität verliert und Kritik nur als persönliche Kränkung versteht. Innerhalb dessen gibt es die Untergruppe des malignen, des bösartigen Narzissmus. Die Betroffenen halten sich für besonders großartig, sind unehrlich, aggressiv, paranoid.
Zweifellos: Diese Züge können wir bei Trump öffentlich beobachten. Allein diese fast kindischen dauernden Beschimpfungen vermeintlicher Feinde. Ich betone allerdings, dass ich Trump nicht in meiner Praxis gesehen habe. Daher kann ich nicht sagen, ob er auch im intimen Leben Züge zeigt, die eine Diagnose rechtfertigen würden. Es kann ja durchaus sein, dass er zu Hause ein ehrlicher Mensch ist.
Bereitet es Ihnen Sorge, dass Populisten derzeit einen derart großen Zulauf haben?
Das hat zumindest in den USA mit der sozialen Entwicklung zu tun. Eine bestimmte Klasse, insbesondere weiße Arbeiter, hat Angst und fühlt sich unterprivilegiert. Die weiße Unterschicht hat den Eindruck, dass Einwanderer, Latinos, Schwarze auf ihre Kosten im Zentrum des Interesses stehen. Sie fühlt sich vom demokratischen Liberalismus vernachlässigt und wendet sich Nationalisten zu, von denen sie sich besser vertreten fühlt.
Unermüdlicher Forscher
Otto Friedmann Kernberg, geboren am 10. September 1928 in Wien, gilt als der führende Experte für Persönlichkeitsstörungen. Bekannt sind vor allem seine Arbeiten über Borderline-Störungen und Narzissmus. Nach wie vor forscht er und behandelt seelisch kranke Menschen. Arbeitszeit: Montag bis Freitag, acht bis zwanzig Uhr
Zum Weiterlesen
Vor einigen Monaten sprach Kernberg lange mit dem deutschen Psychiater Manfred Lütz, der daraus ein Interviewbuch über Kernbergs Leben gemacht hat. „Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?“ Herder , 192 S., 20,60 €
Themenwechsel: Stimmt es, dass Sie als Kind vor Ihren Eltern Hitler imitiert haben?
Meine Eltern haben das lustig gefunden. Zugleich erschraken sie.
Wer sich heute Hitler-Reden anhört, muss ja fast lachen, weil das so lächerlich klingt.
Ja. Andererseits muss man das sehr ernst nehmen. Denn es gibt eine Beziehung zwischen regressiven Einstellungen von Großgruppen und dem Verhalten von Führerpersönlichkeiten. Ich beobachte Trump viel. Er ist sehr gut darin, primitive Gefühle in anderen zu aktivieren. Auch Hitler hatte das. Es hört sich nur lächerlich an, wenn man das als Einzelmensch sieht. Wenn man Teil einer Masse ist, klingt das ganz anders. Wenn wir Teil einer gleichgesinnten Masse sind, verringert sich unsere Intelligenz. Die Fähigkeit, für sich selbst zu entscheiden, wird geringer. Man nennt das „soziale Regression“, also ein Rückfall auf eine frühere Entwicklungsstufe – eine Art Abwehrmechanismus, mit der Welt zurechtzukommen.
Sie mussten 1938 vor den Nazis aus Wien fliehen. Wir sieht Ihr Kontakt zu Wien heute aus?
Ich liebe Wien. Als Kind habe ich in der Neustiftgasse gewohnt. Mein Vater war glühender Patriot und Monarchist. Er hat mich Otto genannt nach dem letzten Habsburger. Jedes Wochenende hat er mir die Stadt gezeigt, die Kinos, die Konditoreien. Wenn ich heute hier bin, streife ich durch die Gegend, genieße Kunst, Malerei, Musik. Es hat allerdings Jahre gedauert, bis ich über den Schock, den ich als Kind erlebt habe, hinweggekommen bin. Bis ich es geschafft habe, die Abscheu gegenüber dem Nazisystem nicht auf das Land zu übertragen und zu begreifen, dass die Menschen, die heute hier wohnen, andere sind als jene, die es 1938 waren. Aber es ist mir auch klar, dass es in ganz Europa Antisemitismus gibt und vielleicht in Österreich stärker als anderswo. Doch es ist wichtig, dass das nicht zu einer persönlichen Ideologie des Misstrauens und des Hasses wird.
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