Emotional ausgelaugt
Eine psychische Erkrankung kann jeden treffen. Die Corona-Krise hat die Problematik verschärft. So ist beispielsweise die Zahl jener, die psychisch bedingter Kopfschmerz quält, in weiten Teilen der USA seit Pandemie-Beginn um 50 Prozent gestiegen. Das belegen neueste Auswertungen der Migräne- und Kopfschmerz-App "Migraine Buddy", die weltweit rund 2,5 Millionen Nutzer zählt. Die auffälligsten Ausschläge registrierten die Betreiber zwei Wochen, nachdem Präsident Trump am 13. März den nationalen Ausnahmezustand erklärte. Am selben Tag verkündete Bundeskanzler Kurz hierzulande, dass "wir unser soziales Leben auf ein Minimum reduzieren" müssen.
Knapp sechs Monate sind seither vergangen. Die Covid-Maßnahmen wurden teils gelockert. Das Virus ist nicht von der Bildfläche verschwunden, ebenso wenig wie die psychischen Folgen der Ausnahmesituation. Angstzustände, Panikattacken, Depressionen, Schlafprobleme: Schon kurz nach Start des Lockdowns wurde sichtbar, wie die Pandemie die seelische Gesundheit beansprucht. Depressive Symptome stiegen von etwa vier Prozent auf über 20 Prozent und Angstsymptome von fünf Prozent auf 19 Prozent an, wie eine Studie der Donau-Universität Krems im Frühjahr abbildete. 16 Prozent der Befragten litten unter Schlafstörungen.
"Die Ergebnisse waren schon damals ernüchternd – daran hat sich bis jetzt erstaunlich wenig geändert", betont Studienleiter Christoph Pieh vom Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit. Unter anderem in Zusammenarbeit mit dem ÖBVP und der Sigmund Freud Universität hat er seine Forschungen fortgeführt: Der Freiheitsentzug als Verursacher von psychischem Leid sei in den Hintergrund gerückt. Im Fokus stünden nun sozioökonomische Belastungsfaktoren (finanzielle Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, etc.), "die umso gravierender werden, je länger die Krise anhält".
Ein anderer bedrückender Parameter: die Ungewissheit. "Die Zahlen steigen wieder, es gibt weder Impfstoff noch Heilmittel, keiner weiß, wie es im Herbst weitergeht", sagt Pieh. Hinzu komme der mit Bangen erwartete Schulstart – und damit fragliche Betreuungspflichten –, wegen Reisebeschränkungen abgesagte oder wackelnde Urlaube und Beziehungsprobleme.
"Die Lockerungen haben im Juni die Hoffnung auf Normalität genährt", weiß Stippl, "und jetzt hört man, dass alles doch nicht so einfach sein wird und wir für längere Zeit mit Widrigkeiten konfrontiert sein werden. Da kann auf lange Sicht einiges im Leben – sofern das nicht schon passiert ist – ins Wanken geraten."
Paradoxe Medikation
Wird die seelische Last übermächtig, erscheint der Griff zu Psychopharmaka nachvollziehbar. Tatsächlich ist die Nachfrage in den vergangenen Monaten aber gesunken. Zu Beginn des Lockdowns registrierte der Verband der Arzneimittel-Vollgroßhändler (Phago) noch einen Anstieg von 113 Prozent bei Psychopharmaka. In den Folgemonaten wurden beträchtliche Rückgänge verzeichnet: Das Minus lag bei 25 Prozent im April und bei 17 Prozent im Mai. "Einer der Gründe dürfte darin zu finden sein, dass weniger Patienten zum Arzt gegangen sind und weniger Präparate verschrieben wurden", mutmaßt Phago-Generalsekretärin Monika Vögele. Durch die Vorratskäufe lassen sich auf den tatsächlichen Konsum aber nur bedingt Rückschlüsse ziehen.
Die eingangs erwähnten Stresskopfschmerzen sind laut Stippl ein typischer Ausdruck der Belastung: "Verspannungen am ganzen Körper, innere Unruhe, Rückenschmerzen, Herzrasen und Magenprobleme sind auf den latenten Stresspegel und Sorgen zurückzuführen. Das sind Warnsignale, die man ernst nehmen sollte."
Versorgungsbedarf
Einen Weg aus der Krise kann zum Beispiel ein Psychotherapeut weisen. Kürzlich hat das Gesundheitsministerium das Kontingent für kassenfinanzierte Plätze aufgestockt, die langen Wartelisten für die kostenintensive Behandlung sind kürzer geworden. Angesichts der Lage sollte Psychotherapie jedem seelisch Leidenden zugänglich sein, fordert Stippl: "Je länger man mit der Behandlung solcher Symptome, Störungen und Schmerzen zuwartet, desto stärker werden sie und desto langwieriger und kostenintensiver wird die Therapie."
In der breiten Bevölkerung gebe es nach wie vor Hemmungen, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. "Wenn man sich dazu durchgerungen hat und dann – wie es oft vorkommt – auf ein halbes Jahr vertröstet wird, fühlt man sich zurückgestoßen. Die negative Gedankenspirale wird befeuert."
Die Psyche pflegen
Wie sich die Gefühlswelt der Menschen bis Ende des Jahres entwickeln wird, sei laut Stippl schwierig zu prognostizieren. "Das hängt davon ab, was von außen auf uns zukommt." Er rät, sich derweil von innen zu wappnen: "Man kann versuchen, dieser Zeit wieder Sinn und Bedeutung zu geben." Etwa, indem man eine joblose Phase mit bereichernden Fortbildungen überbrückt oder neue – nicht zwingend kostspielige – Projekte in der Wohnung oder dem Garten plant. "Das schafft Erfolgserlebnisse, die Kraft geben können."
Andreas Sator wird sich nun depressionsbedingt eine berufliche Auszeit nehmen, schrieb er auf Twitter: "Um mehr Zeit für Therapie und emotionale Arbeit zu haben."
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