Von Natur aus feinfühlig: Was das Erleben hochsensibler Menschen prägt
An die dröhnenden Beats, das Stimmengewirr und den feuchten Dunst von Alkoholatem und Schweiß erinnert sich Jana Huhn genau. Dass sie "irgendwie anders" ist, wusste die 28-Jährige schon früh.
Als sie Anfang 20 mit Freuden in eine Wohnung zog, begegneten ihr im Alltag immer öfter unerträgliche Hürden. Zum Beispiel auf WG-Feiern. Wurde der Trubel zu viel, zog sich Jana zurück, saß stundenlang allein hinter verschlossener Tür in ihrem Zimmer, während draußen die Party tobte. "Mir ging es dann so richtig gut, obwohl es niemand nachvollziehen konnte."
Was Jana beschreibt, ist typisch für Menschen, die hochsensibel sind, weiß Psychologin Sandra Konrad. Sie forscht seit vielen Jahren zum Konzept der Hochsensibilität, das Ende der Neunziger-Jahre vom US-Psychologen-Ehepaar Aron erstmals erwähnt wurde. "Die beiden gingen davon aus – das ist bis heute anerkannt –, dass hochsensible Menschen externe und interne Stimuli intensiver wahrnehmen und stärker verarbeiten", erklärt Konrad. Etwa sensorische, aber auch psychische Reize.
Hochsensible ziehen sich deshalb verstärkt zurück. Situationen werden reflektiert, Ereignisse schwingen lange nach. Auch Feinfühligkeit, gesteigertes Harmoniebedürfnis oder Perfektionismus werden ihnen attestiert. Bei ihren Studien habe sich Konrad zufolge aber gezeigt, "dass es nicht den prototypischen Hochsensiblen gibt". Laut Konrad wichtig: "Hochsensibilität ist keine psychische Störung und erst recht keine Krankheit."
Ursachenforschung
Bis vor Kurzem ging man davon aus, dass 15 bis 20 Prozent der Menschen als hochsensibel eingestuft werden können. Neueste Forschungen legen nahe, dass es um die 30 Prozent sind. "Ich glaube nicht, dass mehr Menschen hochsensibel geboren werden", sagt Konrad. Vielmehr würden bestimmte Persönlichkeitseigenschaften im kulturellen Denken heute eine andere Rolle spielen. In Expertenkreisen sei zudem das Bewusstsein für Hochsensibilität gewachsen.
Auf eine einheitliche, physiologische Theorie für deren Entstehung konnte sich die Wissenschaft bisher nicht einigen. "Es wird angenommen, dass die neuronalen Reizverarbeitungssysteme im Hirn speziell beschaffen sind. Man geht davon aus, dass das genetisch bedingt ist."
Das bestätigte kürzlich eine britische Zwillingsstudie. Darin wurde befunden, dass sich Sensibilität ganz allgemein zu 47 Prozent durch erbliche Faktoren erklären lässt und zu 53 Prozent erworben ist, auf Umwelteinflüsse zurückgeht. Etwa die Bindung zu den primären Bezugspersonen oder das Empathieverständnis im Elternhaus. "Später spielen Peer Groups und wie da mit Wahrnehmungen und Gefühlen umgegangen wird eine Rolle."
Freundschaften waren für Jana lange problembehaftet: "Mir war früh klar, dass ich nicht viele enge Freunde brauche, bei neu gewonnenen fühle ich mich unter Druck, emotional mehr zu geben, als ich kann."
Grenzerfahrung
Ihr Erleben wird Hochsensiblen oft abgesprochen, sie selbst als Persönlichkeiten gering geschätzt. "Das führt dazu, dass sie ihrer Wahrnehmung nicht trauen, einen geringeren Selbstwert entwickeln", schildert Konrad. Dabei habe Hochsensibilität viele positive Aspekte: "Hochsensible sind verlässlich und kreativ, haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und können in größeren Zusammenhängen denken." Negativ werde oft ihre geringe Abgrenzungsfähigkeit empfunden. "Diese Kränkung kann dazu führen, dass sie über ihre Grenzen gehen, weil sie mit der Gesellschaft mithalten wollen. Das kann seelisch belasten."
Auch Jana hat ihre Hochsensibilität viele Jahre kompensiert. Während ihrer Schwangerschaft, in der sie eine Therapie begann, machte es Klick. Seither schreibt die Krankenpflegerin auf Instagram (@vonkopfbisfuss_) über Hochsensibilität und Gefühle im Allgemeinen. "Ich habe den Eindruck, dass sich viele fürchten, wegen ihrer Empfindungen verurteilt zu werden. Dabei muss man sich für kein Gefühl der Welt schämen."
Jana hat gelernt, ihre emotionalen Bedürfnisse offenzulegen. Dazu ermuntert auch Konrad: "Viele nehmen ihre Gefühle nicht gut wahr, was sich in steigenden Depressions- und Burn-out-Raten spiegelt. In diesem Sinne können, sowohl Hochsensible als auch Nicht-Hochsensible voneinander lernen."
Buchtipp:
Rolf Sellin: "Wenn die Haut zu dünn ist", Kösel, 192 Seiten, 18,90 Euro.
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