Wie Forscher Florian Krammer den Impfschutz gegen Omikron einschätzt
Ein massiver Anstieg der Neuinfektionen mit der Omikron-Variante in Südafrika, ein Omikron-Cluster in Oslo, neue Fälle in vielen Staaten: „Die neue Coronavirus-Variante hat sich weltweit ausgebreitet, in vielen Ländern gibt es bereits lokale Übertragungsketten“, sagt Florian Krammer, Professor für Impfstoffkunde an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai Krankenhaus in New York im KURIER-Gespräch. „Wir sehen das Virus überall – es ist bisher unter dem Radar geflogen.“
KURIER: Nach dem Bekanntwerden der ersten Daten über die neue Omikron-Variante des Coronavirus vor mehr als einer Woche haben Sie gesagt, Sie sehen "mit etwas Sorge, aber ohne Panik" auf die neue Variante. Ist das auch heute Ihre Einschätzung? Eine noch nicht begutachtete Studie zeigt, dass das Risiko für Genesene, sich mit Omikron zu infizieren, mehr als doppelt so groß ist wie das Risiko einer neuerlichen Infektion mit der Beta- oder Delta-Variante.
Florian Krammer: Also Panik ist sicher nicht angebracht, die bringt uns nicht weiter. Sorgenvoll bin ich aber schon nach wie vor. Tatsächlich zeigt diese eine Studie, dass der Schutz von Genesenen in Südafrika, sich neuerlich mit dem Coronavirus zu infizieren, bei der Omikron-Variante geringer ist. Das Reinfektionsrisiko scheint bei Omikron im Vergleich zu Beta oder Delta um das 2,4-Fache erhöht zu sein. Das ist kein gutes Zeichen und ich wäre beruhigter gewesen, wenn man hier keine Unterschiede gesehen hätte. Es ist ein Hinweis darauf, dass es sich um eine starke Fluchtmutante handelt, die einen bestehenden Immunschutz gegen die Beta- oder Delta-Variante bei Genesenen zumindest teilweise umgehen kann. Aber es gibt noch viele Fragezeichen. Wir haben jetzt eine einzelne Studie, brauchen aber für verlässliche Aussagen noch mehr Daten. Wir wissen auch noch nicht, ob Omikron tatsächlich infektiöser ist, oder die derzeitige starke Ausbreitung an der Umgehung des Immunschutzes der Genesenen liegt.
Offen ist auch, ob es einen starken Anstieg der Omikron-Neuinfektionen auch in Ländern geben wird, in denen derzeit Delta dominiert. In Südafrika gab es bis vor wenigen Wochen nur wenige Coronavirus-Fälle.
Welche Auswirkungen erwarten Sie durch die Omikron-Variante auf den Schutz durch die Impfungen?
Noch ist nicht bekannt, welche Auswirkungen es auf die von Impfungen induzierte (herbeigeführte, Anm.)Immunität gibt. Ich glaube aber schon, dass es auch bei Omikron nach wie vor einen Schutz vor schweren Infektionen geben wird, speziell für Menschen, die eine Booster-Dosis bekommen haben bzw. für Genesene, die anschließend geimpft wurden. Diese beiden Gruppen haben eine sehr starke Immunantwort - und auch, wennn Omikron die virusneutralisierende Aktivität von Antikörpern und Abwehrzellen reduziert, besteht wahrscheinlich noch ein Restschutz. Der Schutz wird verringert sein, aber es wird noch einen Schutz geben - das erwarte ich zumindest, auch wenn es noch Spekulation ist.
Wichtig ist auch, dass das Immunsystem trainierbar ist: Wer eine Immunität durch Impfung oder Genesung hat, dessen antikörperproduzierende B-Zellen sind darauf trainiert, das Spike-Protein zu erkennen (das Coronavirus benötigt die Spikeproteine auf seiner Oberfläche, um an menschliche Zellen zu binden und die Zellen zu infizieren, Anm.). Wahrscheinlich erkennen sie das Spike-Protein der Omikron-Variante anfangs etwas weniger gut, aber sie lernen dazu und können dann vermutlich beide neutralisieren - also jenes der Delta- und jenes der Omikron-Variante.
Die Booster-Dosis ist also auch im Hinblick auf Omikron derzeit sehr wichtig?
Ja, denn es steigt nicht nur die Menge der Antikörper, auch ihre Qualität erhöht sich. Es kommt zur sogenannten Affinitätsreifung, ein Prozess, durch den die B-Zellen gehen. Die Antikörper können danach besser an das Spike-Protein binden.
Das Spike-Protein der Omikron-Variante hat sich zwar verändert, aber durch diese erhöhte Bindungsstärke kann ein Teil der Antikörper dann möglicherweise noch binden und das Virus neutralisieren, also die Vermehrung bremsen.
Die Booster-Dosis ist aber auch gegen Delta und die derzeitige Welle von großer Bedeutung: Schwere Erkrankungen mit Delta werden derzeit zwar auch noch von zwei Impfungen mit über 90 Prozent verhindert, aber der Schutz vor Infektionen generell und deren Weitergabe sinkt mit der Zeit auf rund 50 Prozent ab. Durch den Booster steigt auch dieser Schutz wieder auf über 90 Prozent, zumindest bei der Delta-Variante.
Es gab aber schon Fälle von dreifach Geimpften, die sich trotzdem mit Omikron infizierten und milde Symptome bekamen. Das sehen wir bei Delta sehr selten.
So wichtig die Booster-Impfungen derzeit sind: Das Wichtigste ist aus meiner Sicht derzeit, dass möglichst viele Menschen, die noch nicht geimpft sind, erstmal die Erst- und Zweitimpfungen durchführen lassen.
Aber hieß es nicht, dass die meisten Infektionen nur mild sind - etwa auch bei den Reiserückkehrern aus dem südlichen Afrika?
Das wurde anfangs zwar berichtet, aber unterschreiben würde ich es nicht. In der südafrikanischen Provinz Gauteng gibt es nicht nur eine starke Zunahme an Infektionen durch Omikron, sondern auch an Spitalsaufnahmen. Dabei zeigen sich auch vermehrt schwere Infektionen bei unter Vierjährigen. Der rasche, starke Anstieg (mehr als 300 Prozent in den vergangenen sieben Tagen laut Gesundheitsminister Joe Phaahla, Anm.) ist schon erschreckend. Es sieht danach aus, als sei die Omikron-Variante recht fit und als würde der Ausbruch in Südafrika großteils von Omikron ausgelöst werden. Was die Reiserückkehrer mit Omikron-Infektionen betrifft, sind es einfach zu wenige für definitive Aussagen, dass es bei Geimpften nur zu milden Verläufen komme.
Es gab vergangene Woche von den Firmenchefs von Moderna und Biontech etwas unterschiedliche Aussagen, ob die Impfstoffe auf die Omikron-Variante angepasst werden müssen oder nicht. Zuletzt ging auch Biontech-Chef Ugur Sahin von der Notwendigkeit eines neuen Impfstoffes aus.
Also grundsätzlich ist es ganz gut, CEOs nicht zuzuhören. Wenn sich das Virus weiter ausbreitet, fitter ist als Delta , das Infektionsgeschehen übernimmt und es sich um eine starke Fluchtmutante handelt, dann brauchen wir einen angepassten Impfstoff.
Aber das Szenario ist nicht so einfach: Alle, die bereits geimpft und auch geboostert sind, würden dann wahrscheinlich nur eine Dosis von einem angepassten Impfstoff benötigen.
Für bis dahin nicht Geimpfte wird es komplizierter. Nehmen wir an, dass Omikron und Delta gleichzeitig zirkulieren: Dann wissen wir wahrscheinlich zunächst nicht, ob die angepasste Impfung gegen Omikron auch gegen Delta schützen würde. Deshalb kann es sein, dass sich ungeimpfte Personen dann zuerst zwei Mal mit dem alten Impfstoff impfen lassen müssen und dann das dritte Mal mit jenem gegen Omikron.
Ob wir schon im nächsten Schritt einen Kombi-Impfstoff gegen mehrere Varianten erhalten könnten, ist auch noch offen. Moderna hat das bereits getestet mit der Beta-Variante und dem ursprünglichen SARS-CoV-2.
Wichtig ist, dass die Firmen bereits jetzt mit den Vorbereitungen für neue Impfstoffe beginnen.
Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko) in Deutschland, Thomas Mertens, hat kürzlich im F.A.Z-Podcast gesagt, er würde sein eigenes, sieben Jahre altes Kind derzeit nicht gegen das Coronavirus impfen lassen. Abgesehen von der Zulassungsstudie gebe es "keinerlei Daten" über die Verträglichkeit des Impfstoffes in der Gruppe der Kinder zwischen fünf und elf Jahren.
Also wir haben nicht nur die Daten der Zulassungsstudie, sondern mittlerweile auch Daten von rund vier Millionen geimpften Kindern in dieser Altersgruppe – und da zeigt sich nichts Auffälliges. Ich respektiere seine Meinung, aber ich teile sie nicht. Meine Meinung ist, dass das Nationale Impfgremium (NIG) in Österreich sehr gute und sehr schnelle Entscheidungen trifft, die wirklich auf Daten basieren. Ich würde den Empfehlungen des NIG in Österreich folgen,und die haben die Impfung von 5- bis 11-jährigen Kindern für die gesamte Altersgruppe empfohlen.
Und das Risiko von Herzmuskelentzündungen?
Diese Diskussion gab es ja auch hier in den USA und die haben auch die Zulassungsbehörden geführt. Die US-Arzneimittelbehörde hat – basierend auf den vorliegenden Erkrankungsraten der 12-bis 29-Jährigen – eine umfassende Nutzen-Risiko-Analyse für Kinder durchgeführt und gesehen, dass der Nutzen überwiegt. Dann hat sich das die US-Gesundheitsbehörde CDC nochmals angesehen und ebenfalls einen Empfehlung ausgesprochen. Die bisherigen Erfahrungen bestätigen diese Empfehlungen.
Möglicherweise noch heuer wird der Impfstoff der US-Firma Novavax zugelassen. Er wird oft auch als Totimpfstoff bezeichnet. Sie haben das kritisiert. Warum?
Die reine Unterscheidung zwischen Tot- und Lebendimpfstoffen ist veraltet und stammt aus einer Zeit, als es eben nur Tot- und Lebendimpfstoffe gab. Der Begriff "Tot(virus)impfstoff" wurde immer für Impfstoffe mit abgetöteten, inaktivierten Erregern verwendet. Das trifft nur auf den Impfstoff von Valneva zu, bzw. auf Impfstoffe aus China und Indien. Novavax ist ein rekombinanter Proteininimpfstoff, darüberhinaus haben wir heute Vektorimpfstoffe und mRNA-Impfstoffe. Einen Lebendimpfstoff (diese enthalten vermehrungsfähige Krankheitserreger, die jedoch so abgeschwächt wurden, dass sie die Erkrankung selbst nicht auslösen, Anm.) gibt es gegen SARS-CoV-2 noch keinen, trotzdem kann man nicht alle anderen pauschal als Totimpfstoffe bezeichnen. Das ist eine überholte, sehr vereinfachte Einteilung.
Noch zu Novavax: Was ist ein rekombinanter Proteinimpfstoff?
Man nimmt für den Menschen ungefährliche Baculoviren - ihre Hauptwirte sind Motten - und verändert sie gentechnisch so, dass man in ihre Erbsubstanz das Gen für das Oberflächenprotein (Spike-Protein) von SARS-CoV-2 einbaut. In Bioreaktoren werden dann Insektenzellen - konkret Mottenzellen - mit diesen Viren infiziert. Die Zellen bilden dann das Spike-Protein - etwas, das bei den mRNA- und den Vektor-Impfstoffen im Körper stattfindet, weil diese nur den genetischen Bauplan für das Spike-Protein liefern. Die Proteine für den Novavax-Impfstoff werden dann aus den Zellen entnommen und gereinigt. Als Verstärker (Adjuvans) wird ein Inhaltsstoff (Saponin) des chilenischen Seifenrindenbaumes verwendet. Auch ein HPV-Impfstoff und ein Influenza-Impfstoff werden so hergestellt.
Grundsätzlich ist das ein sehr guter Impfstoff, die Wirksamkeit ist nach den bisherigen Daten vergleichbar mit jenen der mRNA-Impfstoffe, die Menge der gebildeten neutralisierenden Antikörper ist sehr hoch. Momentan wird er nur in Indonesien eingesetzt, in den USA wurde noch kein Zulassungsantrag gestellt. Novavax war mit seiner Entwicklung ursprünglich weit vorne, ist dann aber wegen Produktionsproblemen zurückgefallen. Die EU hat zwar 200 Millionen Dosen bestellt, aber wir wissen noch nicht, wie viel auch tatsächlich geliefert werden kann.
Was die Sicherheit betrifft, sehen die Daten in den Studien sehr gut aus. Aber das war bei den mRNA-Impfstoffen und Vektorimpfstoffen auch so und dann hat man in der Praxis sehr seltene Nebenwirkungen wie die Thrombosen bei den Vektorimpfstoffen und milde Herzmuskelentzündungen bei männlichen Jugendlichen bei mRNA-Impfstoffen sowie seltene schwere allergische Reaktionen gesehen. Solche Daten aus der Anwendung haben wir bei Novavax halt noch nicht, daher würde ich den vorhandenen Impfstoffen jetzt einmal einen Vertrauensvorschuss geben, die kennen wir einfach besser.
Impfskeptiker hoffen vor allem auf den Totimpfstoff der französisch-österreichischen Valneva. Wann rechnen Sie hier mit einer Zulassung in der EU?
Der Impfstoff befindet erst seit der vergangenen Woche in der ersten Stufe des Zulassungsverfahrens bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA. Das heißt, das wird noch lange dauern. Ich rechne nicht damit, dass dieser Impfstoff vor Mitte 2022 zugelassen wird.
Ganz generell: Wie gut ist der Schutz von nur Genesenen?
Grundsätzlich muss man schon sagen, dass bei den bisherigen Varianten auch der Schutz von Genesenen vor einer Reinfektion nicht schlecht war, auch bei Delta nicht. Das kann sich mit Omikron aber sehr schnell ändern – und der Reinfektionsschutz von Alpha-, Beta- oder Delta-Genesenen deutlich schlechter ausfallen. Und: Schon bisher zeigten unsere Studien, dass bei etwa fünf Prozent der Genesenen die Immunantwort rasch schlechter wird und verschwindet.
Wenn sich Genesene impfen lassen, dann schießen ihre Antikörpertiter höher hinauf als bei Leuten, die zwei Mal geimpft sind. Die gehen dann so hoch hinauf wie bei Menschen, die schon eine dritte Impfung haben – und zwar bei allen, auch jenen, die vorher ganz niedrige Titer hatten.
Deshalb sollten sich Genesene auf jeden Fall impfen lassen. Denn die Impfung optimiert die Immunantwort, danach ist man sehr gut geschützt, aber davor kann es bei nur Genesenen durchaus zu Reinfektionen kommen.
Wie wird es mit den Impfungen weitergehen: Wird, so wie bei der Influenza, jedes Jahr eine Impfung notwendig sein?
Das ist derzeit komplett unklar. Ich persönlich glaube, dass es entweder anlassbezogen sein wird, also wenn eine neue Variante auftritt, die eine starke Fluchtmutante ist, oder dass es so sein wird wie etwa bei der Tetanus- oder FSME-Impfung, wo man im Abstand von mehreren Jahren (fünf bzw. drei ab 60 bei FSME, 10 bei Tetanus) auffrischt. Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir jährlich auffrischen werden müssen.
Impfskeptiker behaupten ja, der Umstand, dass Geimpfte andere anstecken können, zeige, dass die Impfungen nicht halten, was versprochen wurde - sonst gäbe es ja nicht auch Infektionen unter Geimpften.
Das stimmt nicht. Die Erwartungshaltung der Behörden und der WHO war, dass eine Impfstoffzulassung dann erfolgen soll, wenn eine Impfung zumindest 50 Prozent der schweren Verläufe verhindert. Dann kamen die Daten der mRNA-Impfstoffe, die symptomatische Erkrankungen zu 94,95 Prozent verhindert haben.
Universitäre Studien - nicht von den Firmen, weil die hatten das großteils gar nicht untersucht - zeigten dann, dass es zumindest kurz nach der Impfung auch einen guten Schutz gegen Infektionen an sich, auch ohne Symptome, gab. Das war eine positive Überraschung. Dieser Schutz ging dann mit den Monaten zurück, aber nicht der Schutz vor schweren Erkrankungen. Und die dritte Impfung erhöht den Infektionsschutz wieder deutlich. Das ist der Grund, warum es zumindest bei der Delta-Variante kaum mehr zu Infektionen bei dreifach Geimpften kommt.
Renommierter Impfstoff-Forscher
Florian Krammer wurde 1982 in Pack in der Steiermark geboren. Nach seinem Studium an der Universität für Bodenkultur in Wien kam er 2010 an die „Icahn School of Medicine“ am Mount-Sinai-Krankenhaus in New York. Dort arbeitete er im Labor des ebenfalls aus Österreich stammenden Virologen Peter Palese an der Entwicklung eines universalen Grippeimpfstoffes, der gegen alle Grippe-Viren schützen soll. Seit 2018 ist er Professor für Impfstoffkunde am Department of Microbiology und leitet das „Krammer Laboratory“.
Wie realistisch ist es, dass wir nächstes Jahr in die „endemische Phase“ übergehen, in der das Coronavirus durch ausreichende Immunität durch Impfung oder Infektion keine Wellen mehr auslöst?
Eigentlich hatte ich ja gehofft, dass wir schon heuer in diese Phase kommen. Als im Frühjahr die Impfungen groß starteten dachte ich, bald werden wir es geschafft haben. Aber dann kam Delta und die Impfraten blieben leider niedrig.
Wenn Omikron nicht abhebt, könnte es für das kommende Jahr ganz gut aussehen. Sollte sich Omikron aber stark ausbreiten, kommt vermutlich noch eine fünfte Welle, und was danach passiert, kann man eigentlich nicht vorhersagen. Sicher, irgendwann wird SARS-CoV-2 ein saisonales Erkältungsvirus werden, das uns keine großen Probleme mehr macht. Aber jetzt für die nahe Zukunft etwas vorherzusagen finde ich mittlerweile sehr schwierig. Das Virus überrascht uns immer wieder – und wir liegen die ganze Zeit mit unseren Prognosen falsch.
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