Superspreader: Wenn das Virus den Turbo zündet
Als unscheinbares Speicheltröpfchen kann das Coronavirus von Mund und Nase eines Menschen auf die Schleimhäute eines anderen gelangen, in geschlossenen, schlecht belüfteten Räumen über Stunden als geschrumpftes Aerosol in der Luft verweilen oder auf Oberflächen rieseln. Die Folgen sind weniger unscheinbar: Ein einzelner Infizierter kann so Dutzende andere Menschen anstecken.
Solche Szenarien – sie werden als Superspreading-Events bezeichnet – spielten sich im vergangenen Halbjahr in diversen Umgebungen ab. In Callcentern, fleischverarbeitenden Betrieben, bei Chor-Proben, Gottesdiensten, auf Sommercamps und Hochzeiten. 80 Prozent des globalen Ansteckungsgeschehens sollen von nur zehn bis 20 Prozent der Infizierten verursacht werden. Das postulierte kürzlich ein Forscherteam um den US-Infektiologen und mathematischen Modellierer Joshua Schiffer.
Ob man die bisherige Annahme, dass einige wenige Superspreader die bedeutenden Treiber der Seuche sind, damit in Zahlen gegossen hat, bleibt abzuwarten: Die Studie hat den Begutachtungsprozess noch nicht durchlaufen.
Damit es zu einer lokalen Masseninfektion kommt, braucht es "jemanden, der ein Virus in hoher Menge ausscheidet und auf engem Raum mit anderen zusammentrifft, die dafür empfänglich sind", beschreibt Virologe Christoph Steiniger von der MedUni Wien das Phänomen.
Die Virusausscheidung wird erst dann irrelevant, wenn man mit Menschen in Kontakt kommt, die gegen das entsprechende Virus bereits immun sind. "Das ist bei SARS-CoV-2 nicht der Fall, da es keine Grundimmunität in der Bevölkerung gibt." Das höchste Ansteckungspotenzial besitzen Infizierte in den ersten zwei bis drei Tagen nach Symptombeginn. Die Viruslast im Nasen- und Rachenraum ist dann am größten. "Sobald das Immunsystem gegen den Erreger mobilmacht, wird die Viruslast mit jedem Tag geringer", sagt Steininger. Das bedeute, dass Menschen mit einem schwachen Immunsystem das Virus tendenziell länger ausscheiden.
Daten-Trugschluss
Im Superspreading-Kontext ist der Dispersionsfaktor interessant. Er gibt an, wie häufig eine Krankheit auftritt und inwiefern sie zur Clusterbildung neigt. Je kleiner er ist, desto mehr Infektionen lassen sich auf wenige Personen zurückführen. Bei SARS-CoV-2 könnte das zuzutreffen. Das kann auch praktisch sein, weil es Contact Tracing und Containment erleichtert. Für abschließende Aussagen sei es zu früh, warnt Steiniger: "Eine Voraussetzung wäre, dass man viele Menschen zufällig testet. Die momentane Strategie ist, dass man über einen Infizierten stolpert und allen Kontaktpersonen nachgeht. Das festigt womöglich fälschlicherweise den Eindruck, es gebe nur Superspreader. Wenn man breit testet, könnte man bemerken, dass Superspreading-Events eventuell gar nicht so häufig sind."
Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, seien Testkits zur Selbstabnahme, wie sie Steiniger etwa mit dem Start-up "Lead Horizon" entwickelt hat. Sie sind in Drogerien und Apotheken erhältlich. "Dadurch ist die Barriere für PCR-Tests so niedrig, dass sich jeder einen Test kaufen kann. Damit ist das Testkollektiv breiter gestreut."
Verbreiter ohne Symptome
Die Frage, ob Geschlecht oder Alter beim Superspreading eine Rolle spielen, sei derzeit nicht seriös zu beantworten, betont der Virologe. Seit sich SARS-CoV-2 global ausbreitet, wird diskutiert, ob Kinder das Virus länger und in höherer Menge ausscheiden. "Dafür gibt es bisher keine Belege, die Vermutung wurde von anderen Atemwegsinfektionen wie der Grippe abgeleitet. In diesem Punkt sind Corona und die Influenza nicht zu vergleichen. Kinder scheiden das Grippevirus länger aus, weil sie nie Kontakt zu einem verwandten Grippevirus hatten – Erwachsene schon. Sie besitzen eine Teilimmunität, die die Virusausscheidung reduziert."
Ein anderes Problem: Bei Covid-19 können Superspreader auch leichte oder gar keine Symptome haben. Erst kürzlich kam eine Studie aus Südkorea erneut zu dem Ergebnis, dass Asymptomatische eine hohe Viruslast tragen können. Steininger: "Das ist das Unangenehme bei SARS-CoV-2. Viele Menschen wissen nicht, dass sie das Virus in sich tragen und weitergeben können. Sie wiegen sich in Sicherheit und gehen sozialen Kontakten großzügig nach.“ Überbewerten dürfe man diese Tatsache aber nicht: „Der Großteil der symptomlosen Corona-Infizierten gibt das Virus nicht im großen Stil weiter."
Herauszufinden, warum manche Menschen ihr Umfeld massiver infizieren als andere, könnte ein Schlüssel zu Eindämmung der Pandemie sein, ist sich der Virologe sicher: "Weil man dazulernt, welche Situationen besonders dazu neigen, viele Infektionen hervorzubringen. Die Bar-Cluster überall auf der Welt zeigen, wie wichtig es ist, dann Menschen, die mit vielen anderen zu tun haben, engmaschig getestet werden. Wenn auch das Maskentragen und andere Schutzmaßnahmen von ihnen am penibelsten eingehalten werden, kann das eine enorme Schutzwirkung mit sich bringen."
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