"Die Menschen sehen, dass die Spitäler nicht überfordert sind, und verstehen nicht, warum sie ihre Geschäfte schließen müssen", sagte Virologe Christian Drosten kürzlich im Interview mit dem Guardianund sprach von einem "Präventionsparadoxon". "Menschen behaupten, wir hätten überreagiert." Dabei würde außer Acht gelassen, wie dramatisch die Pandemie in Spanien oder New York verlaufen sei. Das Virus in Schach zu halten sei etwa in Deutschland nur geglückt, "weil wir so früh angefangen haben".
Corona-Maßnahmen retrospektiv zu beurteilen, "ist schwierig", sagt Public-Health-Experte Andreas Sönnichsen. Vereinzelt lasse sich daraus aber "für die Zukunft lernen".
Schulschließungen
In Schweden beruft man sich beim liberalen Vorgehen in puncto Schulen – Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse sind dort weiter offen – auf die uneindeutige Studienlage zur Frage, ob Kinder das Virus stark verbreiten. Sönnichsen: "Die momentane Datenlage spricht eher dafür, dass Schulen eine untergeordnete Rolle spielen. Man hätte bei uns erst Tests in Schulen durchführen können, um zu schauen, inwieweit Kinder dort überhaupt betroffen sind. Gegebenenfalls hätten einfache Hygienemaßnahmen und gezielte Schließungen zum Schutz ausgereicht, anstatt die Bildungseinrichtungen komplett dichtzumachen, was ich nach wie vor als überzogen bewerte."
Risikogruppen
Dass ältere Menschen eher Gefahr laufen, an Covid-19 zu versterben, gilt als gesichertes Wissen. Sönnichsen hält die anfänglich strikte Isolierung älteren Menschen in Alters- und Pflegeheimen für gerechtfertigt: "Wir wussten damals nicht, in welche Richtung das alles gehen wird, daher hatte der Schutz der vulnerablen Gruppen Vorrang. Die Frage ist, wie weit man dabei geht. Wie weit man in Kauf nimmt, ältere Menschen durch den Entzug von Nähe an den Rand der Belastbarkeit zu bringen und ihnen jede Lebensqualität zu rauben."
Nach heftigen Diskussionen öffneten die Wiener Bundesgärten nach Ostern wieder ihre Pforten. Sie hätten nie geschlossen werden sollen, bekräftigt Sönnichsen. Eine Ansteckung im Freien scheint laut neueren Studien unwahrscheinlich – vor allem unter Einhaltung des Mindestabstandes. "Inzwischen gibt es detailliertes Wissen dazu. Meines Erachtens nach war die Schließung auch schon davor nicht gerechtfertigt."
Zu Beginn der Corona-Krise wurde davon abgeraten, mittlerweile ist das Bedecken von Mund und Nase beim Einkaufen oder Friseurbesuch Pflicht. Eine übertriebene Regelung? "Anfangs ging es um die Perspektive 'Wie kann ich mich schützen'. Da waren chirurgische Masken kein probates Mittel", sagt Virologe Christoph Steininger von der MedUni Wien. "In einer Zeit, in der das Virus zirkuliert, geht es darum, Mitmenschen zu schützen. Für diesen Zweck sind Masken jetzt nützlich." Dass man mit Masken nur andere und nicht sich selbst schützt, hält Virologin Dorothee von Laer von der MedUni Innsbruck für eine überholte Sicht der Dinge: "Eine gut sitzende, mehrlagige Stoffmaske kann Viren bremsen und die Ansteckungsgefahr reduzieren."
Masken bereiten Gehörlosen Probleme
Eigenverantwortung
Bei der Bekämpfung des Coronavirus setzt Schweden auch auf das eigenverantwortliche Handeln der Bevölkerung. Lange blickte man hierzulande mit Sorge auf die steigenden Infektionszahlen. Seit wenigen Tagen scheint sich die Lage zu stabilisieren. Die Pandemie dürfte "allmählich abebben", erklärte Staatsepidemologe Anders Tegnell im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Wäre es auch in Österreich mit dem Appell an die Vernunft getan gewesen? "Das schwedische Modell hätte man auch hier verfolgen können. Die Österreicher sind nicht weniger verantwortungsvoll. Aber es hat seinen Preis: In Schweden sind deutlich mehr Menschen an Covid-19 verstorben als in Österreich, dafür haben wir in Österreich mehr Kollateralschäden in der Zukunft."
Die Lage habe sich in Österreich nun jedenfalls für den Moment entspannt, betont Sönnichsen: "Die Sache ist erst einmal durch jetzt. Wir haben derzeit praktisch keine Infizierten mehr, die Gefahr sich anzustecken ist gering. Und das war ja schließlich auch das erklärte Ziel."
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