Psychisch krank - und keine Aussicht auf Therapie: "Wir brauchen Lösungen"
"Psychisches Leid ist aus der Tabuzone herausgekommen, aber noch nicht weit genug", sagt Beate Wimmer-Puchinger, Präsidentin des Berufsverbandes Österreichischer PsychologInnen (BÖP). Neben Schamgefühlen sind es Behandlungskosten und lange Wartezeiten, die psychisch belasteten Menschen den Zugang zu wirksamen Therapien erschweren. Das Risiko, dass Leidenszustände chronisch werden, steigt.
"Es ist nicht nachvollziehbar, warum jemand mit gebrochenem Bein selbstverständlich sofort behandelt wird, und jemand mit einer Depression nicht", betont Barbara Haid, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP).
Dafür, dass Hilfe in seelischen Schieflagen zur Selbstverständlichkeit wird, machen sich Haid und Wimmer-Puchinger gemeinsam stark. Im KURIER-Interview sprechen sie über Versöhnungsprozesse zwischen den Berufsverbänden, die Folgen krisenbehafteter Zeiten und ihre Vision psychosozialer Versorgung in Österreich.
KURIER: Sie treten seit einiger Zeit als Präsidentinnen des Öfteren gemeinsam auf. Das war früher nicht so. Wie kommt’s?
Beate Wimmer-Puchinger: Ich glaube, wir Frauen sind vernünftig, wir brennen beide für die Sache und uns sind die Menschen und ihre psychosoziale Versorgung wichtig. Von daher ist es günstig, wenn wir uns auf ein Packl hauen (lacht). Wir haben Empathie und Verständnis füreinander. Ich finde es schön, dass wir nun gemeinsam erfolgreich Projekte umsetzen.
Barbara Haid: Wir haben in der jüngsten Vergangenheit Befindlichkeiten überwunden und gemeinsame Schnittmengen als helfende Berufsgruppen wieder freigelegt. Wir sind gleichwertig, machen aber nicht das Gleiche – haben verschiedene Kernkompetenzen. Ich sehe uns ein Stück weit als Schwersternwissenschaften. Und wie bei Geschwistern normal, gibt es auch mal Konflikte.
Konflikte, die auf das alte Psychotherapiegesetz zurückgehen, das Anfang der Neunziger verabschiedet wurde?
Wimmer-Puchinger: Das ging auf das Konto des damaligen Gesundheitsministers und war nicht nachvollziehbar. Die Psychotherapie wurde durch die Möglichkeit einer Inanspruchnahme auf Krankenschein in der Ausübung unterstützt, und wir Psychologinnen gingen leer aus. Das war schwierig, auch kränkend. Wir sind hochkarätig ausgebildete Fachkräfte, die aber nicht durch die Sozialversicherungsträger gestützt behandeln durften. Erst jetzt sind wir hier auf Augenhöhe gekommen.
Sie spielen darauf an, dass klinisch-psychologische Behandlung seit Jahresbeginn eine Kassenleistung ist ...
Wimmer-Puchinger: Das ist ein Riesenmeilenstein für uns – ein Befreiungsschlag. Es braucht uns als Ressource: Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit.
Analog dazu bei Ihnen, Frau Haid, die Akademisierung der Psychotherapie-Ausbildung durch ein neues Gesetz. Auch längst überfällig?
Haid: Ja, wir haben über zehn Jahre lang ein neues Psychotherapiegesetz gefordert, mit der Vollakademisierung der Ausbildung als Herzstück. Wir sind der letzte gehobene Gesundheitsberuf, der per se noch nicht akademisiert war. Das neue Gesetz gibt unserem Beruf einen soliden Rahmen, der jetzt mit Leben gefüllt werden muss. Da gibt es viel zu tun.
Sie meinen die Ausgestaltung der Bachelor- und Masterlehrgänge an den Universitäten, die die – bisweilen sehr teure Ausbildung – auch günstiger machen sollen?
Haid: Die außeruniversitäre Ausbildung über Fachgesellschaften, wie sie bisher war, muss mit universitären Strukturen verwoben werden. In einem ersten Schritt kommen jetzt einmal 500 von der öffentlichen Hand finanzierte Studienplätze im Zuge des Psychotherapie-Masters an die Unis. Wir bedauern, dass von Gesetzes wegen nicht auch das Bachelor-Studium und dritte Ausbildungsabschnitt, ähnlich der Fachärzteausbildung bei den Medizinern, umfasst wird. Letzterer verbleibt momentan in den Fachgesellschaften. In Zukunft wird die Ausbildung also billiger werden, sie könnte aber auch kostenfrei werden, wenn die ganze Ausbildung öffentlich finanziert wird.
Beate Wimmer-Puchinger: Die Psychologin widmete sich früh in ihrer Karriere dem Thema Frauengesundheit, etwa als Frauengesundheitsbeauftragte der Stadt Wien. Seit 2017 ist die Oberösterreicherin Stimme der PsychologInnen im Land.
Barbara Haid: Die Psychotherapeutin arbeitet am Landeskrankenhaus Hall und in eigener Praxis in Tirol. Seit 2022 vertritt sie die Anliegen heimischer PsychotherapeutInnen.
Eine teure Angelegenheit …
Haid: Wenn der politische Wille da ist, ist es möglich. Ein Arzt oder eine Ärztin muss für die gesamte Ausbildung nichts bezahlen und wird in der Facharztausbildung auch bezahlt.
Kassenpsychologen gibt es Stand jetzt noch nicht, nur eine Bezuschussung durch die Krankenkasse.
Wimmer-Puchinger: Pro Sitzung bei einer Klinischen Psychologin gibt es bei der ÖGK einen Kostenzuschuss von 33,70 Euro. Das kann nicht das Ende der Fahnenstange sein. Wir wollen für Menschen, die es dringend brauchen, klinisch-psychologische Behandlung umsonst. Da sind wir in Verhandlungen.
Sind psychisch belastete Menschen in Österreich aktuell gut genug versorgt?
Wimmer-Puchinger: Nein, absolut nicht. Psychische Gesundheit ist kein Luxusgut. In den letzten Jahren wurde das auf politischer Ebene anerkannt, aber der Weg ist noch weit.
Haid: In der Psychotherapie gibt es zwar vollfinanzierte Kassenplätze, wo Patientinnen und Patienten nichts bezahlen müssen. Aber es gibt nur eine beschränkte Zahl, inzwischen mehr als früher. Diese unsägliche Kontingentierung steht einer guten Versorgung im Weg.
Viel wurde nach der Pandemie über psychische Nachwirkungen für Junge gesprochen. Wo steht man mit der Bewältigung?
Wimmer-Puchinger: Hier hat die Regierung zum richtigen Zeitpunkt das Richtige gemacht und – in für uns überwältigendem Ausmaß – Mittel bereitgestellt. Dann haben wir „Gesund aus der Krise“ binnen kürzester Zeit auf die Beine gestellt. Und es funktioniert hervorragend: Wir haben an die 27.000 Kinder rasch, niederschwellig und erfolgreich stabilisiert. Allerdings muss das Projekt in die Regelversorgung überstellt und als langfristig wichtiges Investment in die Zukunft gesehen werden. Dazu gibt es ein politisches Bekenntnis.
Ein Bekenntnis, das auch von einer neuen Regierung mitgetragen wird?
Haid: Ich bin Optimistin – und „Gesund aus der Krise“ hat sich als Antwort auch auf ein weltweites Problem bewährt: Bei den 5- bis 14-Jährigen sind psychische Krankheiten die Erkrankungen Nummer eins, vor neurologischen und Hautkrankheiten. Ich denke, eine neue Regierung wäre gut beraten, das Projekt weiterleben zu lassen. Vor allem, weil unbehandelte psychische Erkrankungen dem Staat ein Vielfaches mehr kosten.
Unsere Zeit ist krisenbehaftet. Corona, Kriege – zuletzt eine Naturkatastrophe durch das Hochwasser. Was macht das mit Menschen?
Haid: Es macht die Menschen müde und mürbe. Wir sind weniger belastbar und schneller gereizt. Die Permakrise leistet Stresserkrankungen Vorschub. Deswegen braucht es eine Phase der Beruhigung, die Menschen müssen wieder mehr Vertrauen gewinnen.
Wimmer-Puchinger: Das ist gesellschaftspolitisch ganz wichtig. Wenn die Politik diese No-Future-Stimmung befeuert, statt Lösungen anzubieten, kann die Situation ins Hoffnungslose kippen.
Herbst und Winter sind für viele emotional triste Saisonen. Auf welche Ressourcen kann man sich besinnen?
Haid: Wenn Angstgefühle, zum Beispiel, hochkommen, würde ich raten, innezuhalten und sich die Frage zu stellen „Was genau ängstigt mich denn?“. Es zu benennen und zu schauen, was man verändern kann. Nicht immer braucht es eine Behandlung. Oft kann man die alltägliche Tipps-und-Tricks-Kiste greifen – Sonnenlicht tanken, Bewegung, frische Luft, Rückbesinnung auf Hobbys, eingeschlafene soziale Kontakte, ehrenamtliche Tätigkeiten.
Wimmer-Puchinger: Und sich auch auf seine Stärken besinnen, auf das, was man gut kann, was einen ausmacht. Gerade wir Frauen werden ja nach wie vor oft zu Selbstzweiflerinnen sozialisiert.
Viele heimische Berufsverbände haben männliche Präsidenten. Was geben Sie Frauen mit, die in ihrer Branche Fuß fassen möchten?
Wimmer-Puchinger: Ich als alte Feministin sage: Wir Frauen müssen lernen, aus tradierten Rollen zu steigen, die uns schwächen. Den Mut zu haben, auch mal unbequem und lästig zu sein. Sich aus dem Fenster zu lehnen, sich zu positionieren und nicht Everybody’s Darling zu sein.
Haid: Was wir Frauen brauchen, ist Kraft zum Grenzensetzen, Klarheit und viel Geduld – und strategisch-analytisches Denken, was oft Männern zugeschrieben wird, wir aber genauso gut können. Und auch Solidarität untereinander und den Wunsch, mit unserer Arbeit die Welt ein bisschen besser zu machen.
Psychotherapeutinnen und Psychologen – auch Ihre Berufsverbände – treten immer öfter als virtuelle Fachleute im Netz auf. Eine gute Sache? Wimmer-Puchinger: Soziale Medien können eine Gefahrenquelle sein, besonders für Kinder. Es gibt Influencer, die sich im Bereich Mental Health tummeln, wo wir keine Qualitätssicherung haben, wo Gefährliches transportiert wird. Dem wollen wir entgegentreten und solide Information zum Thema psychische Gesundheit liefern.
Gibt es genug Bewusstsein bei Ihren Kolleginnen und Kollegen, wie man sich auf Instagram und Co. richtig verhält? Keine Diagnosen stellen, Werbung machen ...
Haid: Sie wissen schon, was sie dürfen und was nicht. In den Ausbildungen wird es nun verstärkt Thema sein. Und da bringen auch wir uns als Präsidentinnen ein.
In gewissen gesellschaftlichen „Bubbles“ hat man den Eindruck, dass der Gang zur Therapeutin cool geworden ist. Täuscht das?
Wimmer-Puchinger: Bei Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben oder existenzielle Probleme haben, ist es noch schwieriger. Und ist deswegen wichtig, dass wir auch sozial benachteiligte Menschen mit unserem Wirken erreichen. Viel gelungen ist bei den Jungen. Wir wissen aus Studien, dass sich der Großteil nicht scheut, psychische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Haid: Ich bin immer wieder an Schulen, wo wir enttabuisieren und sensibilisieren. Da sind die Turnsäle voll, weil sich die Jungen dafür interessieren und sich nicht mehr schämen.
1 von 8 Personen lebt laut Vereinten Nationen (VN) weltweit mit einer psychischen Störung. In Österreich leiden bis zu 30 Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens einmal an einer psychischen Erkrankung. Suizid bleibt eine der häufigsten Todesursachen hierzulande, insbesondere bei jungen und älteren Menschen.
Angst und Depression
Am verbreitetsten sind Angststörungen und Depressionserkrankungen. Erstere betreffen laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) global rund 301 Millionen Menschen. Rund 280 Millionen Menschen leiden an Depressionen, Frauen häufiger als Männer.
Krankenstände
Die Anzahl der Arbeitsausfälle in Folge psychischer Erkrankungen nimmt jährlich zu. Laut dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) stieg der Anteil an Krankenstandstagen wegen psychischer Erkrankungen von 6,9 Prozent im Jahr 2010 auf 11,4 Prozent im Jahr 2021.
Hilfe in Krisen
Unter 142 ist der Notrufdienst der Telefonseelsorge für Menschen in Belastungssituationen rund um die Uhr erreichbar, ebenso wie Rat auf Draht unter 147. Die BÖP-Helpline bietet von Montag bis Donnerstag (9 bis 13 Uhr) unter 01/504 8000 Beratung an, die Ö3-Kummernummer von Montag bis Sonntag (16 bis 24 Uhr) unter 116.
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