Stefanie Stahl: "Heute sagt man halt Narzisst, früher hätte man 'A....' gesagt"
Das Tabu um seelisches Leid hätte es nie geben dürfen, meint Stefanie Stahl, Deutschlands bekannteste Psychologin. Wie sie zur Kritik an ihrer Person steht und warum das Aufarbeiten von Vergangenem frei macht.
Sie gilt als Superstar der deutschsprachigen Psychologie-Szene: Stefanie Stahl. Allein die deutsche Fassung ihres 2015 erschienenen Bestsellers "Das Kind in dir muss Heimat finden" hat sich über drei Millionen Mal verkauft.
Inzwischen hat Stahl weitere Bücher, zuletzt das Arbeitsbuch "Wer wir sind" zum gleichnamigen Sachbuch, geschrieben. Auch in Podcasts und Youtube-Formaten teilt sie ihren Blick auf die Psyche.
Mit dieser Öffentlichkeit geht auch Kritik einher. Ihre Theorien seien platt, ist mancherorts im Internet zu lesen. Ihre These, Menschen würden sich aus Bindungsangst in offene Beziehungen begeben, provozierte wütende Kommentare. Stahl zeigt sich unbeeindruckt: "Ich mache meinen Job, tue das, was ich für richtig halte. Es freut mich, dass viele das feiern. Dass es auch Kritiker gibt, damit kann ich leben", sagt sie im KURIER-Interview.
KURIER:Frau Stahl, ihr berufliches Portfolio ist beachtlich. Gibt es so viel über die unsere Psyche zu erzählen?
Stefanie Stahl: (lacht) Unsere Psyche umfasst all unsere Emotionen, unser Denken, wie wir wahrnehmen und unser Verhalten. Die Psychologie ist ein weitreichendes Gebiet – und nicht so schnell auserzählt.
In einem Interview meinten Sie, gar nicht so gerne Bücher zu schreiben. Warum tun Sie es dennoch?
Ein Buch zu schreiben, ist ein herausfordernder Prozess. Ich tue es, weil ich denke, dass ich damit vielen helfen kann. Das bekomme ich auch rückgemeldet. Menschen schreiben mir: "Steffi, du hast mein Leben verändert." Solange ich noch Neues zu sagen habe, beiße ich also in den sauren Apfel.
Forschende der Uni Stanford konnten jüngst mit Hirnscans sechs Depressionstypen und jeweils wirksame Therapien ermitteln. Wie sehen Sie dieses genaue Sezieren der Psyche?
Ich halte viel davon. Letztlich geht alles auf hirnphysiologische und hormonelle Prozesse zurück. Je besser wir die verstehen, desto besser können wir sie behandeln. Möglicherweise ist Psychotherapie nur eine Übergangswissenschaft und in 100 Jahren werden die Probleme direkt "im Hirn verlötet", flapsig ausgedrückt.
Psychotherapeuten sind in 100 Jahren also obsolet?
Da, wo es ernst wird – zum Beispiel bei schweren Depressionen, Zwangserkrankungen, Panikstörungen oder psychotischen Erkrankungen –, könnte es künftig zielführendere Behandlungen geben. Wobei die alltäglichen Probleme der Menschen wohl immer noch ein großes Feld offenlassen.
Wie der Mensch tickt – das hat Sie schon immer interessiert. Ihre Erkenntnis?
Jeder Mensch weltweit ist in seinem psychischen Basisprogramm gleich konfiguriert. Unser Erleben kreist um vier Grundbedürfnisse: Erstens, der Wunsch nach Bindung, Zugehörigkeit und Anerkennung. Zweitens, der Wunsch nach Autonomie und Kontrolle und dem Gefühl der Selbstwirksamkeit. Drittens: Der Wunsch nach Erhöhung des Selbstwerts und viertens, das Interesse daran, uns gut zu fühlen und belastenden Gefühlen aus dem Weg zu gehen.
Fördern soziale Medien und der mit ihnen verbundene süchtigmachende Dopamin-Kick das Verdrängen negativer Gefühle?
Social Media hat eine ablenkende Funktion, ja. Der Punkt ist, dass wir allgemein ungemeine Anstrengungen darauf ausrichten, belastende Gefühle nicht fühlen zu müssen. Uns nicht unserer Angst, Verletzlichkeit und Sterblichkeit zu stellen. Damit bleiben sie unverarbeitet und brechen sich in dysfunktionalen Verhaltensweisen Bahn. Wenn jemand seine Trauer über fehlendes Lob in der Kindheit nicht verarbeitet hat, kann es passieren, dass er ein hohes Machtbestreben entwickelt und zuungunsten anderer auslebt. Zum Beispiel ein herrischer Chef ist. Oder, wie im Fall von Putin – selbst schwersttraumatisiert –, ganze Völker ins Verderben führt.
Keine Angst vor angstmachenden Gefühlen: Ist das Ihre Botschaft?
Ja, sondern sich ihnen stellen, sie aushalten, sie betrachten. Das macht sie zugänglich und nimmt ihnen die Bedrohlichkeit.
Zurück zu den mächtigen Männern, mit denen Sie es in ihren psychologischen Analysen aufnehmen: Donald Trump attestieren Sie eine Persönlichkeitsstörung. Lehnt man sich mit solchen Ferndiagnosen nicht zu weit aus dem Fenster?
Dieses ungeschriebene Gesetz, Ferndiagnosen seien verwerflich, halte ich für unsinnig. Ich habe das studiert, natürlich kann ich in manchen recht eindeutigen Fällen Ferndiagnosen stellen.
Sie schreiben der Arbeit mit dem Inneren Kind, also frühen Prägungen, Heilsames zu. Warum?
Sind die Eltern wenig einfühlsam, lernt das Kind früh, seine Gefühle zu unterdrücken. Das ist Nährboden für psychische Probleme im späteren Leben. Die Gefühle spuren sich in schlimmen Fällen bei starker Vernachlässigung gar nicht so richtig im Gehirn ein. Heutzutage weiß man schon viel mehr über diese Zusammenhänge und viele Eltern machen inzwischen einen guten Job.
Wie sieht der aus?
Königskriterium der Erziehungskompetenz ist elterliche Feinfühligkeit. Nur dann kann man Kinder gut in ihrer emotionalen Entwicklung begleiten und sie zu emotionskompetenten Erwachsenen machen. Das Allerwichtigste ist aber, dass Eltern ihre Kinder lieb haben, so einfach es klingt. Dafür braucht es eine gewisse zeitliche Verfügbarkeit. In den ersten Lebensjahren sollten Eltern präsent sein und Kinder nicht zu früh in Fremdbetreuung abschieben. Das ist eine problematische Entwicklung, die der Tatsache, dass sich vieles verbessert hat, gegenübersteht.
Das steht und fällt mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ...
Es darf nicht zulasten der Frauen gehen. Es braucht andere Betreuungs- und Arbeitsmodelle. Es ist Aufgabe der Politik, sie zu entwickeln. Frauen sollen sich emanzipieren, das sollte aber nicht zur Folge haben, dass Kinder schneller in den Kindergarten kommen. Deswegen braucht es engagierte Männer.
Wird der Einfluss der Kindheit nicht überschätzt?
Es ist hirnphysiologisch faktisch so, dass unser Hirn wenig verknüpft ist, wenn wir auf die Welt kommen. Gerade in den ersten Lebensjahren entstehen die allermeisten Verknüpfungen, und zwar in engem Zusammenspiel mit der Umwelt. Das heißt, die Eltern spielen natürlich eine enorm wichtige Rolle. Sie entscheiden über die wichtigsten Fragen: Was bin ich wert? Und was muss ich tun, um geliebt zu werden?
Die Idee, dass alles, was Eltern getan haben, belasten kann, macht gehörig Druck.
Ihre Verantwortung ist auch sehr hoch. Um den Druck rauszunehmen: Eltern müssen nicht perfekt sein, nur hinreichend gut. Kinder können viele Fehler verzeihen, wenn die Grundbotschaft ist: Ich liebe dich, wie du bist.
Versäumt man nicht seine Zukunft, wenn man allzu intensiv seine Vergangenheit bearbeitet?
Nein, es ist eher so: Wenn ich mich nicht damit beschäftige, dann bestimmt die Vergangenheit das Hier und Jetzt. Ich kann in der Gegenwart nur ein freier Mensch werden, wenn ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetze.
Prominentes Multitalent
Stefanie Stahl (60) ist Psychologin und Psychotherapeutin. Neben ihrer Tätigkeit in ihrer Praxis in Trier hat sie zahlreiche Selbsthilfe-Ratgeber verfasst. Ihr Bestseller "Das Kind in dir muss Heimat finden" wurde in über 30 Sprachen übersetzt.
Das neue Arbeitsbuch "Wer wir sind" soll Leserinnen und Leser ermutigen, sich selbst besser zu verstehen: "Es ist ein Buch, mit dem direkt jeder loslegen kann." Stahl ist häufig in Talkshows zu Gast und gibt selbst Bühnenshows zu Themen wie Selbstwert und Bindungsangst.
Im Zusammenhang mit dem Inneren Kind ist oft auch von Traumata die Rede. Wie halten Sie es mit dem Begriff?
Zum Teil wird er inflationär gebraucht. Gleichzeitig ist immer noch kein richtiges Bewusstsein für Traumata und die vielen traumatisierten Menschen in unserer Gesellschaft vorhanden. Dabei wäre das sehr wichtig. Lieber einmal inflationär gebraucht als zu viele übersehene Traumatisierte.
Heute treten Psychotherapeutinnen und Psychologen im Internet selbstbewusst als virtuelle Fachleute auf. Sie selbst geben etwa Bühnenshows. Das abstinente Analytikerimage à la Freud scheint aufgeweicht.
Wird auch höchste Zeit. Wir haben viel zu sagen und es ist wichtig, dass wir es auf Augenhöhe tun. Wir haben moderne Arten der Wissensvermittlung und die sollte man nutzen, um über Dinge zu sprechen, die uns als Gesellschaft alle etwas angehen.
Ist das Tabu rund um psychisches Leid am Aufbrechen?
Ja, und das ist ganz, ganz wichtig. Weil die Psyche, das sind ja wir. Dass je ein Tabu daraus gemacht wurde, ist ein kranker Fehler der menschlichen Entwicklung.
Begriffe wie "Trigger" oder "Trauma" werden im Alltag zunehmend beliebig gebraucht. Jemand, der egozentrisch aufritt, ist schnell ein Narzisst. Wie sehen Sie das?
Ich sehe das nicht so dramatisch. Dass "Trigger" im Alltagssprachgebrauch angekommen ist, ist gut, denn wir haben alle welche. Narzissmus wird tatsächlich etwas "überdiagnostiziert" von Laien. Letztlich haben die Menschen einfach andere Wörter, um sich über andere zu unterhalten. Heute sagt man halt Narzisst, früher hätte man "A...." gesagt.
Soll Psychotherapie staatlich stärker gestützt werden?
Absolut, wenn wir alle mehr über uns nachdenken würden, wäre unsere Welt eine viel, viel bessere.
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