Wie viele Menschen sind ausgeprägt narzisstisch?
Wenn wir uns am Durchschnitt orientieren, landen wir bei 16 Prozent der Bevölkerung, die überdurchschnittlich narzisstisch sind. Also jede sechste Person in der Bevölkerung.
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Wann wird die Schwelle zur Krankheit überschritten?
Es ist nicht so, dass man den Regler bei der Ausprägung der narzisstischen Eigenschaft immer weiter nach oben schiebt, und irgendwann wird es krank. Krankhaft wird eine Persönlichkeitseigenschaft, wenn Menschen deswegen im Leben scheitern – also Leid bei sich oder anderen verursachen. Es gibt Narzissten, die total angepasst leben, es gibt aber auch welche, bei denen das nicht klappt. Das hat damit zu tun, welche Fähigkeiten sie allgemein mitbringen und wie gut Narzissmus in ihren Lebenskontext passt.
Erkennen gescheiterte Narzissten ihr Problem?
Die Idee, dass Narzissten keine Einsicht in ihre Züge haben, ist falsch. Wenn sie in Therapie gehen, ist es aber tatsächlich so, dass sie bei sich erst mal kein Problem sehen, sondern im Job, in der Beziehung oder mit dem Gesetz. Ihnen klarzumachen, dass sie selbst dazu beitragen, ist eine Herausforderung in der Arbeit mit ihnen.
Und was ist das Ziel einer solchen Therapie?
Einen flexibleren, vernünftigeren Umgang mit Narzissmus zu finden, nicht die Persönlichkeit zu ändern.
Hadern Narzissten nie?
Tatsächlich sind sie oft psychisch sogar gesünder und haben einen höheren Selbstwert. Man findet kein erhöhtes Risiko für Depressionen oder gar Suizidalität. Solange das Selbstdarstellen funktioniert, ist alles gut. Wenn der Applaus ausbleibt, wenn Narzissten Kränkungen erleben, kann es problematisch werden.
Ich gestehe: Wenn wir über Narzissten reden, sehe ich vor meinem inneren Auge Männer.
Wenn wir auf die Zahlen schauen, sehen wir, dass Männer im Mittel minimal narzisstischer sind. In beiden Geschlechtern gibt es aber die volle Narzissmus-Bandbreite. Männer setzen ihre Ellbogen etwas offensichtlicher ein, Frauen ihre Aggression etwas subtiler. Und sie tragen ihren Narzissmus teilweise auf anderen sozialen Spielfeldern aus: Männer eher im beruflichen Kontext, Frauen eher beim Aussehen oder der großartigen Hilfsbereitschaft. Aber es gibt auch Karrierenarzisstinnen und es gibt auch die Männer, die ihr Sixpack im Spiegel bewundern oder die wegen ihrer grandiosen Spenden bewundert werden wollen. Quintessenz: Wenn man Narzissmus verstehen will, muss man immer auf die Person gucken und nicht auf das Geschlecht.
Werden Narzissten mit dem Alter milder?
Die meisten Menschen werden mit dem Alter milder. Auch Narzissmus nimmt kontinuierlich ab in den meisten Fällen. Das lässt sich psychologisch gut erklären: In jungen Jahren wollen wir stärker neue Ressourcen akquirieren und soziale Netzwerke aufbauen, von denen wir dann zehren. Im Alter liegt der Fokus auf dem bereits Erreichten und engen Beziehungen. Für das erste Ziel ist Narzissmus hilfreich, für die Absicherung eher weniger.
Begünstigt unsere moderne Welt Narzissmus?
Die Idee der "Generation Me" gibt es tatsächlich schon länger. Für solche Generationeneffekte gibt es keine Belege. Das ist eine klassische Verwechslung mit dem eben besprochenen Alterseffekt. Wenn ich die heute 20-Jährigen mit den 60-Jährigen vergleiche, wird sich zeigen, dass die Jungen deutlich narzisstischer sind. Aber wenn die dann 60 sind, wird auch deren Narzissmus abgenommen haben.
Soziale Medien befeuern den Selbstdarstellungsdrang nicht?
Dort sehen wir schon ein Ausmaß an narzisstischen Feuerwerken, wie nirgendwo sonst. Dadurch wird Narzissmus sichtbarer, aber ist nicht stärker verbreitet. Social Media passt zu dem, was Narzissten wollen: Aufmerksamkeit. Das können sie auch meist besser generieren als andere und sind deswegen auf solchen Portalen oft sichtbarer.
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Bei der Persönlichkeit stellt sich immer die große Frage: angeboren oder erlernt. Wie sieht es bei Narzissmus aus?
Wie bei den allermeisten Eigenschaften: in etwa 50 Prozent Gene und 50 Prozent Umwelt. Am Ende wird Narzissmus wohl eine Mischung sein: Aufgrund einer genetischen Bereitschaft sehr auf soziale Belohnung anzuspringen plus Erfahrungen, bei denen man tatsächlich so eine Bewunderung erlebt hat.
Wird der prägende Effekt der Kindheit überschätzt?
Natürlich können Misshandlungen oder Vernachlässigung ungünstige Effekte auf die Entwicklung haben. Aber das manchmal verbissene Bemühen von Eltern, Kinder zu den besten Persönlichkeiten zu machen, ist übertrieben. Entspanntes Zurücklehnen und liebevolle Zuwendung bringen positivere Effekte. Auch perfekte Eltern verhindern keinen Narzissten.
Eigentlich eine gute Nachricht für Eltern.
Absolut. Es wurde immer angenommen, dass eine kalte Erziehung eine innere Leere und Unsicherheit erzeugt, die durch Narzissmus kompensiert werden muss. Für diese Idee gibt es keine Evidenz. Natürlich ist das schwer zu prüfen, aber in den Studien, die es dazu gibt, wurde eher ein Effekt von übermäßigem Lob gefunden. Also wenn Erziehung einen Effekt hat, dann eher über das Auf-ein-Podest-Stellen des Kindes. Man muss aber auch den Blick weiten: Umwelt ist vieles – Kindergarten, Schule, Freundkreise, Liebeserfahrungen, Erfahrungen im Beruf.
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Stichwort Liebeserfahrungen: Narzisstinnen und Narzissten sind sehr auf das eigene Vorankommen fokussiert – das kann Liebesbeziehungen kompliziert machen. Sind Narzissten beziehungsfähig?
Natürlich. Aber es ist richtig, dass sie in Beziehungen eine ganze Reihe von Problemen mitbringen. Sie gehen eher fremd, sie verhalten sich egoistischer in der Lebensführung, sie wollen mehr als sie geben, sie tragen Konflikte härter aus, verzeihen und entschuldigen sich ungern. Sie können aber auch neue Energie in Beziehungen bringen. In der Beziehung selbst kann man die aufregenden Momente genießen. Und man sollte nicht versuchen, Narzissten zu ändern, sich aber auch selbst nicht verleugnen. Narzissten sind verantwortlich für das, was sie tun und aus dieser Verantwortung sollte man sie nicht entlassen.
Was kann man von Narzissten lernen?
Verführung im positiven Sinn, andere Menschen begeistern zu können. Sich Ziele zu setzen und sie hartnäckig und stressresistent zu verfolgen. Veränderungswillen, das Anstreben neuer, potenziell innovativer Dinge. Allerdings bringt es nichts, narzisstische Persönlichkeiten nachzuahmen. Das funktioniert nicht. Aber diese positiven Seiten zeigen, dass Narzissmus nichts ist, was wir als Gesellschaft loswerden wollen sollten.
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