Das menschliche Herz kann vor Freude springen, vor Angst rasen, vor Schreck stolpern. "Das Herz war schon immer ein Spiegel der Seele", sagt Christoph Herrmann-Lingen. Der deutsche Internist und Psychosomatiker leitet die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Herzzentrum der Universität Göttingen.
Über die Einheit von Herz und Psyche wussten schon die alten Ägypter Bescheid: "In über 3.500 Jahre alten Papyrusschriften ist schon von der Herz-Seele-Beziehung die Rede." Die Überlieferungen hielten moderner wissenschaftlicher Prüfung stand. "Im 19. Jahrhundert konnte man feststellen, dass psychische Belastungen Herzerkrankungen häufig vorausgehen, im Folgejahrhundert wurde dies statistisch untermauert."
Wie genau mentale Prozesse auf das lebenswichtige Organ wirken und warum Kardiologen gut dran täten, sich nicht mehr nur als "Pumpen-Reparateure" zu begreifen, erzählt Herrmann-Lingen im KURIER-Interview.
KURIER: Herr Herrmann-Lingen, worauf gründet Ihr Interesse für die Spezialdisziplin Psychokardiologie?
Christoph Herrmann-Lingen: Ich finde spannend, dass wir damit Menschen viel ganzheitlicher betrachten können. Letztlich ist die Psyche ein Treiber von Herzkrankheit. Und die Herzkrankheit ein Treiber von psychischer Belastung. Psychosomatische Wechselbeziehungen, derer es ja viele gibt, sind daran gut sichtbar. So stellt man in der Beschäftigung mit Herzpatientinnen und -patienten etwa auch fest, dass Herzkrankheiten einen massiven Stressfaktor darstellen.
Durchaus nachvollziehbar …
Absolut. Plötzlich ist man mit Todesängsten konfrontiert. Hat furchtbare Schmerzen, fühlt sich schwach, kriegt keine Luft mehr, muss Medikamente nehmen, die auch Nebenwirkungen haben. Das fällt einem im ärztlichen Alltag auf, wenn man die Augen offen hält. Und da gab und gibt es zunehmend Fachleute, die das untersuchen wollen. Um dem Patienten ein Angebot zu machen, das diese Wechselbeziehungen berücksichtigt.
Über welche Mechanismen läuft diese gegenseitige Beeinflussung im Körper?
Menschen, die gestresst oder depressiv sind, oder unter Ängsten leiden, verhalten sich anders als Menschen, die seelisch ausgeglichen und entspannt sind. Da ist vieles dabei, was man als herzschädigend einordnen würde: Sei es Frustessen aus Kummer, hastige, ungesunde Mahlzeiten aus Zeitnot oder Rauchen als bekannte Stressbremse. Dann gibt es Dinge, die psychisch Leidende nicht mehr so häufig tun: Sich körperlich bewegen zum Beispiel, weil sie keinen Antrieb mehr haben, oder weil sie sich nach einem stressigen Tag zu schlapp fühlen. Das alles trägt dazu bei, dass die klassischen Herzrisikofaktoren ausgeprägter werden.
Psychische Erkrankungen spielen sich nicht nur im Kopf ab, sondern wirken auf den ganzen Organismus. Wenn unsere frühen Vorfahren einem Wolf begegneten, konnten sie davonlaufen oder kämpfen. Für diese Kampf- oder Fluchtreaktion müssen bestimmte Dinge passieren. Der Kreislauf muss aktiviert werden, der Blutdruck geht hoch. Der Körper stellt sich auf Verletzungen ein, die Gefäße ziehen sich schneller zusammen, die Blutgerinnung ändert sich, das Entzündungssystem wird aktiviert – das Herz muss ganz schön arbeiten. Das schafft es in der Regel auch. Wenn man in unserer modernen Zeit nicht einmal im Monat, sondern täglich mit dem grimmigen Chef – eher nicht dem Wolf – konfrontiert ist, wird das Herz strapaziert. Unterm Strich spielen also das vegetative Nervensystem, Stresshormone und Entzündungsbotenstoffe eine Rolle.
Spannend sind Studien, die traumatische Kindheitserfahrungen mit der Herzgesundheit im Erwachsenenalter verknüpfen.
Die erste Studie zu diesem Thema ist schon 20 Jahre alt. Sie wurde vielfach reproduziert mit besseren Methoden. Was sich gezeigt hat, ist plausibel: Lebe ich in einer Umwelt, in der ich mich frei entfalten, meine Interessen ausleben und neugierig sein kann, verhalte ich mich anders, als wenn ich ständig in Frucht lebe, weil der suchtkranke, gewalttätige Vater nach Hause kommen könnte. Das bringt auf der Verhaltensebene Lernerfahrungen mit sich, die im Erwachsenenalter beibehalten werden. Und in der Kindheit werden auch biologische Weichen gestellt: Die Empfindlichkeit des Stresssystems wird etwa umprogrammiert.
Stichwort Epigenetik.
Inzwischen wissen wir, dass Umweltfaktoren dazu beitragen, dass Gene unter widrigen Lebensumständen ab- oder angeschaltet werden und so empfindlicher gegenüber den Folgen von Stress machen.
Gibt es bei allen Herzerkrankungen eine psychogene Komponente?
Es geht nicht um Schwarz oder Weiß. Es gibt Erkrankungen, bei denen das Körperliche stark im Vordergrund steht. Zum Beispiel bei angeborenen Herzfehlern. Bei den meisten spielt die Psyche dennoch eine mehr oder weniger starke Rolle. Auch wenn jemand einen Herzklappenfehler nach einer bakteriellen Entzündung davonträgt, ist die Entzündung die primäre Ursache. Natürlich kann man sich immer fragen, ob ihr eine durch chronischen Stress bedingte Schwächung des Immunsystems vorangegangen ist.
Zum Beispiel beim Broken-Heart-Syndrom. Da ist der Mensch an sich herzgesund, auf einmal führt ein massiver Stress – zum Beispiel das Ende einer Beziehung – nicht nur zu herzinfarktähnlichen Beschwerden, sondern zu einer deutlichen Störung der Herzfunktion. Und bei anderen Krankheitsbildern wie Herzinfarkten, Herzrhythmusstörungen oder Herzschwäche spielen körperliche und psychische Einflüsse in der Entstehung und im Verlauf sehr häufig eng zusammen.
Zurück zu den Kindern mit angeborenem Herzfehler: Ist es überhaupt denkbar, dass sich so etwas psychisch nicht auswirkt?
Es beeinflusst automatisch die psychische Entwicklung. Wenn Kinder bestimmte Dinge aufgrund ihrer körperlichen Einschränkung nicht erleben können, kann das Selbstwertprobleme nach sich ziehen. Es gibt prägende Trennungserfahrungen durch Klinikaufenthalte, Eltern, die zwar versuchen, ein normales Leben zu ermöglichen, im Hintergrund aber häufig ängstlich sind – und so weiter. Der Herzfehler ist nicht psychogen. Was am Ende im Leben daraus wird, wird aber durch psychische Prozesse überlagert.
Wie sollte die psychologische Begleitung von schwer herzkranken Menschen gestaltet sein?
Zunächst sollten Ärztinnen und Ärzte dafür sensibilisiert sein, dass das, was am Herzen passiert, immer etwas mit dem ganzen Menschen macht. Hausärztinnen und -ärzte sind angehalten, hilfreiche Gespräche über psychische Krankheitsaspekte zu führen. Es wäre toll, wenn auch Kardiologinnen und Kardiologen das häufiger machen würden.
Passiert das?
Es gibt ermutigende Entwicklungen, in Österreich teils noch stärker als bei uns in Deutschland. In Österreich wurden Weiterbildungen zu kardiologischer Psychosomatik früher eingeführt. Die sind nicht exklusiv für Mediziner, sondern auch für Pflegekräfte und Psychotherapeutinnen, die mit Herzpatienten zu tun haben.
Gibt es bei Kardiologinnen und Kardiologen eine Offenheit dafür?
Bei jungen deutlich stärker als bei älteren aus meiner Generation. Natürlich gibt es weiterhin welche, die sich als Gerätetechniker sehen und die nur die Pumpe reparieren wollen. Und natürlich ist das auch eine wichtige, oft lebensrettende Maßnahme.
Was hilft Betroffenen konkret?
Neben dem Angebot, über die Dinge zu sprechen und psychohygienische Entlastung zu bieten, spielt Psychoedukation eine große Rolle. Dass man Fehlkonzepte, die Betroffene von ihrer Krankheit haben, auflöst und vermeidet – in der kardiologischen Hektik passiert das leider oft –, Dinge zu sagen, die Menschen verängstigen. Bei Patienten, die ausgeprägte psychische Störungen entwickeln oder bei denen bereits bestehende verstärkt wurden, braucht es eine Psychotherapie. Da ist es wichtig, dass der Therapeut auch etwas vom Herzen versteht.
Wie lässt sich das Herz mental stärken?
Indem man versucht, insgesamt ein ausgeglichenes und sinnerfülltes Leben zu führen. Indem ich den Körper fit halte, aber auch mein Sozialleben. Beides schützt erwiesenermaßen das Herz. In Beziehungen kann aber auch Stress entstehen. Dann gilt es, mit den hie und da auftretenden unangenehmen Gefühlen – am besten gemeinsam – konstruktiv und kompetent umzugehen.
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