St.-Anna-Direktorin Hutter: "Man gewöhnt sich nicht daran, dass Kinder schwerkrank sind"
Das St. Anna Kinderspital, eine der größten kinderonkologischen Kliniken Europas, hat eine neue Direktorin. Caroline Hutters Herz schlägt für die Arbeit am Krankenbett gleichermaßen wie für die Erforschung neuer Therapien.
Das Büro in der Wiener Kinderspitalgasse ist noch etwas kahl. "Die neuen Möbel kommen bald", sagt Caroline Hutter, seit Kurzem neue ärztliche Direktorin des St. Anna Kinderspitals und Professorin für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie an der MedUni Wien. Die Einrichtung ist ohnehin zweitrangig. Hutter hat reichlich Ideen für die Zukunft der Klinik. Auch die Kinderkrebsforschung, die sie an der St. Anna Kinderkrebsforschung (St. Anna CCRI) parallel verfolgt, will sie weiter vorantreiben.
Zur Kinderonkologie kam sie durch Zufall. Nach dem Medizinstudium in Wien und Forschungstätigkeiten in London kehrte sie mit einem Plan nach Österreich zurück: "Ich wollte immer schon ein Physician-scientist sein, im Labor arbeiten, aber auch Patienten behandeln. Deswegen bin ich vor 20 Jahren hierher gekommen. Und erst im Nachhinein draufgekommen, was für ein Glück das war", erinnert sich Hutter im Gespräch.
Damals wurde noch am Dachboden des Spitals geforscht. Heute ist die St. Anna Kinderkrebsforschung als eigenständiges Institut europaweit eines der führenden Zentren auf diesem Gebiet – dem Dachboden längst entwachsen.
Vor welchen Herausforderungen das Spital steht und was die Arbeit mit Kindern so lohnend macht, erzählt Hutter im Interview.
KURIER: Frau Hutter, wie geht es Ihnen mit Ihrer neuen beruflichen Aufgabe?
Caroline Hutter: Ich freue mich total. Ich kenne das Haus seit fast 20 Jahren. Was ein Vorteil ist, weil man mit den Strukturen vertraut ist. Aber es bleibt eine riesengroße Verantwortung. Wir sind das größte kinderonkologische Zentrum in Österreich, haben aber auch die größte Kindernotfallambulanz in Wien. Das ist eine Herausforderung. Die Versorgung betroffener Kinder hat für mich, neben meinen Forschungstätigkeiten, Priorität.
Welche Herausforderungen gibt es?
Auch bei uns – wie überall im Gesundheitswesen – ist der Fachkräftemangel ein Thema. Es wird darum gehen, Leute zu begeistern, im Spital zu arbeiten, sowohl in der Pflege als auch im ärztlichen Bereich. Wir brauchen Menschen, die sich bei uns im Spital den Menschen annehmen.
Wie geht man damit um, täglich mit schwerkranken Kindern in Kontakt zu sein?
Man wächst hinein, aber es ist immer eine Gratwanderung. Man gewöhnt sich nicht daran, dass Kinder schwerkrank sind, nur weil es Alltag ist. Aber es ist eine schöne Arbeit, weil die meisten wieder völlig gesund werden. Und man muss sich nie in der Früh die Frage stellen, ob es Sinn macht, was man beruflich tut. Das macht das Leben einfacher.
Sie haben die Heilungsquote angesprochen. Die liegt zwischen 80 und 90 Prozent, je nach Krebsart. Was hat sich da in den vergangenen Jahrzehnten getan?
Irrsinnig viel. Man sagt, die pädiatrische Onkologie ist die Erfolgsgeschichte in der Medizin. In den Sechzigern sind noch fast alle Kinder an einer Krebserkrankung gestorben. Das beste Beispiel ist die ALL, die akute lymphoblastische Leukämie. Da liegt die Heilungsrate bei den normalen Formen inzwischen bei über 90 Prozent. Es gibt nach wie vor bestimmte Krebsarten, die nicht besonders gut heilbar sind. Aber im Großen und Ganzen hat sich sehr viel verändert.
Gehen Sie davon aus, dass Leukämie irgendwann bei jedem Kind heilbar sein wird?
Ich bin davon überzeugt, ja.
Welche Schritte liegen noch dazwischen?
Zwei Sachen: Heilung bedeutet nicht nur, dass man überlebt, sondern auch, dass man gesund ist ein Leben lang, eine normale Lebenserwartung hat, alles machen kann, was man davor konnte und keine Langzeitfolgen davonträgt. Es ist nach wie vor so, dass eine Krebstherapie nicht gesund für den Körper ist und es eben Spätfolgen, Schäden an Organen, Knochen oder der Muskulatur zum Beispiel, gibt. Man versucht, die Therapien weniger toxisch zu machen, weniger Chemo- und mehr Immuntherapien anzubieten. Bei einem geringen Prozentsatz an Krebsformen, die von Anfang an nicht heilbar sind, braucht es neue Behandlungskonzepte. Da kann ich noch nicht sagen, wie es funktionieren wird. Auch hier wird der Fokus wohl eher darauf liegen, das Immunsystem gegen den Krebs zu mobilisieren.
In der Medizin sind personalisierte Ansätze seit einiger Zeit ein großes Thema.
Auch bei Kindern arbeiten wir jetzt schon personalisiert. Die Forschung testet von Beginn an, welche genetischen Veränderungen die jeweiligen Tumore haben, damit man abschätzen kann, wie empfindlich ein Tumor auf die jeweilige Therapie ist. So versuchen wir, immer nur die Therapie zu geben, die sie wirklich brauchen. Was wir nicht machen, ist, jedes einzelne Kind von vorne bis hinten durchzusequenzieren und die Krebszellen zu nehmen, in eine Kultur zu geben und verschiedene Therapien daran auszutesten – und zu schauen, auf was sie besonders empfindlich sind. Das machen wir derzeit nur bei therapieresistenten Krebsfällen.
Was sind die häufigsten Krebsarten bei Kindern und warum unterscheidet sich diese Liste von jener bei Erwachsenen?
Die Kinderkrebse sind von der Biologie her anders, weil sie schon früh in der Entwicklung entstehen und eigentlich eher Fehler in der normalen Organentwicklung sind. Typisch ist der Nierenkrebs bei Kindern, da funktioniert die Entwicklung von Vorläuferzellen der Niere nicht. Oder beim Neuroblastom, einer Krebserkrankung des Nervengewebes. Das sind Zellen, die Nervenzellen werden sollten, aber in der Entwicklung stehen bleiben und sich zu Krebszellen entwickeln. Der Krebs bei Erwachsenen ist viel häufiger durch Umwelteinflüsse bedingt, das Melanom durch UV-Strahlung beispielsweise. Bei Kindern sind die häufigsten Krebsarten Leukämien und Blastome, zum Beispiel Hirntumore. Gefolgt von Weichteiltumoren.
Eltern beschäftigt wohl oft die Frage, wie man sein Kind vor Krebs schützen kann …
Mit Ausnahme von radioaktiver Strahlung und manchen Pestiziden gibt es keine nachgewiesenen Krebsauslöser, die sozusagen von außen kommen und die man als Elternteil beeinflussen könnte. Natürlich geben sich manche Eltern reflexartig die Schuld an der Erkrankung oder fragen sich, was sie verabsäumt haben. Aber man muss ehrlich sagen: Es ist Zufall. Natürlich sind eine gesunde Ernährung, Bewegung und so weiter wichtig. Aber dass das einen Einfluss auf die Krebsentstehung bei Kindern hätte, dafür gibt es keine Evidenz.
Wie sagt man einem Kind, dass es Krebs hat?
Offen und ehrlich und an das jeweilige Alter angepasst. Wir sagen allen unsere Patientinnen und Patienten, wie es ist, versuchen die Krankheit zu erklären – in Gesprächen mit den Ärztinnen, Psychologen, der Pflege, den Lehrerinnen. Wir haben ein Buch, dass die Chemotherapie erklärt. Wir erklären auch den Kleinsten, wie eine Leukämie entsteht. Weil nur, wenn sie wissen, was sie haben, machen sie mit. Man kann Kinder nicht anlügen und so tun, als wäre nichts. Die checken das ohnehin. Manche Eltern wollen ihre Kinder schützen und es ihnen nicht sagen, das ist verständlich. Aber es ist besser, die Situation zu besprechen, auch weil Kinder total anpassungsfähig sind und die Krankheit zum Teil ihres Lebens und das Beste daraus machen.
Wie begleitet man Kinder, wenn absehbar ist, dass keine Heilung möglich ist?
Das passiert im Team und mit der Familie. Wir haben einen sehr guten Pflegedienst und arbeiten mit verschiedenen Institutionen, die Kinder zuhause begleiten, in Wien zum Beispiel das MOMO Kinderpalliativzentrum. Auch das ist ein offener Prozess. Wir reden mit den Kindern über das Sterben, denn die größte Angst hat man vor Dingen, die man nicht versteht. Die meisten Kinder sterben zuhause – ganz, wie sich die Familie das wünscht.
Was kommt auf eine Familie zu, wenn das Kind eine Krebsdiagnose bekommt?
Anders als in der Erwachsenenmedizin gibt es bei Kindern zum Glück – hoffentlich bleibt es auch so – genügend Ressourcen, um sehr gut zu unterstützen. Es hängt nicht von der Versicherung ab, welche Therapien wir geben können – die Kinder bekommen alles. Bei uns wird jedes Kind einer bestimmten Station zugeordnet, dort sind immer die gleichen Ärztinnen, die gleichen Pflegepersonen, die gleichen Lehrer, die gleichen Physiotherapeutinnen. Das ist dann wie ein zweites Zuhause. Die ersten Tage und Wochen sind schwierig, weil man sich mit etwas konfrontieren muss, an das man zuvor nie gedacht hat. Aber da wächst man hinein – und das Leben funktioniert irgendwie. Wir haben eine Tagesklinik und schauen, dass die Kinder so viel wie möglich zuhause sind.
Was bietet man zur Bewältigung an?
Wir wollen nicht, dass die Kinder nur im Bett liegen. Wir versuchen sie zu mobilisieren. Mit verschiedenen Methoden aus dem Physio-, Logo-, Musik-, Ergo- oder Psychotherapiebereich. Ein breites Spektrum, aus dem man wählen kann. Die einen machen lieber Musik, die anderen malen lieber. Und andere gehen lieber ins Bällebad, auch das haben wir (lacht).
Was macht die Kinderkrebsforschung so wichtig?
Sie ist das A und O in der Onkologie. Wir wollen, dass alle Kinder ein gutes Leben haben, und da gibt es noch Raum, Therapien zu verbessern. Die Kinderonkologie ist eines der Fächer, wo die Translation vom Labor in die Klinik am häufigsten gelingt.
Warum ist das so?
Weil die Ressourcen gut sind, weil die Zusammenarbeit in den Teams besonders gut funktioniert. Wir kollaborieren europaweit in großen Arbeitsgemeinschaften. Alle Therapien sind international abgesprochen. Es gibt einen großen Wunsch, gerade auf dem Gebiet was weiterzubringen – da ist jeder emotional involviert. Man sieht das auch im Institut St. Anna Kinderkrebsforschung: Die Bewerber sagen, sie finden es super, wenn sie wo arbeiten können, wo sie Kindern helfen können.
Sie haben an der Kinderkrebsforschung selbst eine Forschungsgruppe …
Ja, wir arbeiten an einer Erkrankung, die Langerhanszell-Histiozytose heißt. Die ist sehr selten, aber doch eine Krankheit, die auch uns im Haus beschäftigt. Hier machen wir viel Grundlagenforschung und schauen, wie wir die Erkenntnisse zu den Patienten bringen. Und natürlich auch erste klinische Studien, wie man neue Medikamente in die Therapie von Kinderkrebs einbauen kann. Wir wollen am Ende die modernste Therapie anbieten können, die es gibt.
Wie steht Österreich in der Kinderkrebsforschung im internationalen Vergleich da?
Eigentlich sehr gut. Die St. Anna Kinderkrebsforschung ist ein großartiges Forschungsinstitut und die MedUni Wien ist eine der größten Einrichtungen in Europa für klinische, aber auch Grundlagenforschung. Am St. Anna Kinderspital profitieren wir von dieser engen Zusammenarbeit zwischen Forschung und Klinik.
Sie wollen Studierende für die Pädiatrie begeistern. Was sind Ihre Argumente?
Pädiatrie ist das beste Fach. Es bietet viele Optionen, man kann im Spital mit kranken Kindern arbeiten, aber auch in der Ordination ein gesundes Kind beim Erwachsenwerden begleiten. Für mich ist das Beste, dass Kinder so positiv sind – oft auch noch, wenn sie schwerkrank sind.
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