Psychoonkologie: Der Krebs trifft den ganzen Menschen
Ein heller Fleck am Röntgen. So tritt der Krebs im Leben vieler Betroffener zum ersten Mal in Erscheinung. Und plötzlich ist alles anders. "Anpassungsschwierigkeiten, Angst und Depressivität sind die drei häufigsten psychischen Probleme, mit denen Krebspatientinnen und Krebspatienten zu kämpfen haben", weiß der Krebsmediziner und Psychoonkologe Markus Hutterer. "Das betrifft etwa 30 bis 40 Prozent."
In psychoonkologischen Gesprächen kann Verzweiflung, Wut und Trauer begegnet werden.
KURIER: Krebs ist eine Erkrankung des Körpers. Wie wirkt er sich auf die Psyche aus?
Markus Hutterer: Nach der Diagnose ist die psychische Belastung meist besonders groß. Man schlittert emotional in eine lebensbedrohliche Situation, die Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit und sehr viel Angst auslöst. Für Betroffene fühlt es sich an, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen – es entsteht das Gefühl völligen Kontrollverlusts, manchmal eine körperliche und seelische Starre.
Wo setzt die Psychoonkologie an?
Die Begleitung bezieht Körper, Psyche und soziale Faktoren in die Belastungssituation mit ein. Wichtig ist, den Menschen als Individuum mit seiner Lebenseschichte und seinen Ressourcen kennenzulernen. Manche können aufgrund früherer Krisenerfahrungen besser mit Schicksalsschlägen umgehen. Anderen muss der emotionale Umgang mit Ausnahmesituationen erst nähergebracht werden. Unterm Strich geht es darum, aufzuklären, gezielt zu unterstützen und auch langfristig zu begleiten. Das braucht Zeit – ein ganz wesentlicher Aspekt in der Psychoonkologie.
Forschungen haben gezeigt, dass sich Psyche und Immunsystem beeinflussen. Welche Rolle spielt das bei Krebs?
Eine große. Wenn bei der Diagnose eine akute Stressreaktion auftritt, macht sich der Organismus fit für Flucht oder Kampf – eine natürliche überlebenswichtige Reaktion. Im Körper steigen die Konzentrationen der Hormone Adrenalin und Noradrenalin. Die Pupillen werden weit, Blutdruck, Puls, und Muskelaktivität steigen, das Immunsystem wird aktiviert. Kurze Zeit später folgt die Ausschüttung des Hormons Hydrokortison. Es bewahrt den Körper vor ungünstigen Folgen einer zu langen unkontrollierten Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, hemmt aber das Immunsystem. Wenn man in eine chronische Stresssituation kommt, hat das negativen Einfluss auf Regenerationsprozesse im Körper. Betroffene werden anfälliger für Infektionen, auch Verhalten und Emotionen verändern sich. Man fühlt sich krank, müde, ängstlich und niedergeschlagen. Das kann zu Rückzug führen und erneut Stress begünstigen. In der Psychoonkologie versucht man, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, um ungünstigen Effekten auf den Krankheitsverlauf vorzubeugen.
Wie versucht man konkret, Stress zu reduzieren?
Indem man Informationen liefert und aufklärt, Probleme offen anspricht und einordnet und eine Atmosphäre des Vertrauens schafft. Darüber hinaus können angeleitete Entspannungs- und Atemübungen hilfreich sein, ebenso wie Bewegung und Sport.
Kann die Psyche tumorauslösend sein?
Über Umwege, ja. Ängstliche Menschen gehen etwa seltener zum Arzt, Stress wird tendenziell eher mit ungesundem Essen oder Rauchen kompensiert. Es ergeben sich Risikofaktoren, die die Entstehung begünstigen können.
Kann mentale Stärke die Heilungschancen steigern?
Definitiv, das zeigen viele Studien. Mentale Stärke kann die Heilung mitunter sehr effektiv vorantreiben und die Wirksamkeit einer onkologischen Therapie verstärken.
Eine Studie der Universität Leipzig hat ergeben, dass Brustkrebspatientinnen und Patienten mit schwarzem Hautkrebs am stärksten belastet sind. Ist das plausibel?
Aus meiner Erfahrung trifft das nicht zu. Beispielsweise sind Patienten mit Leukämien, aber auch mit Hirntumoren, sehr schwer betroffen. Der Vorteil von Brusttumor-Patientinnen und Melanom-Patienten ist, dass es sehr gute Behandlungsmöglichkeiten gibt.
Gibt es bei Brustkrebs spezielle Ängste, auf die Rücksicht genommen werden muss? Stichwort: Brustabnahme.
Das Körperempfinden und der befürchtete Verlust der Weiblichkeit können bei vielen Patientinnen eine Rolle spielen. Wobei hier nicht nur die bloße Angst, sondern auch Schamgefühle präsent sind. Ähnlich verhält es sich bei Haarverlust durch eine Chemotherapie. Hier können Perücken hilfreich sein.
Braucht jeder Krebspatient psychologische Hilfe?
Nein. Manche möchten das nicht. Es ist aber wichtig, dass man es anbietet, aufklärt und Kontakte herstellt. Es liegt auch in der Verantwortung der betreuenden Ärztinnen und Pflege, auf die emotionale Lage ihrer Patientinnen und Patienten zu achten und wenn nötig öfter das Angebot zu unterbreiten.
Zertifiziert
Die Österreichische Gesellschaft für Psychoonkologie (ÖGPO) wurde 1984 gegründet. In Österreich ist sie die einzige Organisation, die psychoonkologische Ausbildungen anbieten darf.
Interdisziplinär
Im Feld der Psychoonkologie sind nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter aus den Bereichen Psychologie, Psychotherapie, Pflege und Sozialarbeit tätig. Psychoonkologische Beratung kann stationär oder
ambulant stattfinden. Infos für Betroffene und Interessierte: www.oegpo.at.
Eine Krebserkrankung betrifft meist die gesamte Familie. Wie wichtig ist es, auch Angehörige einzubeziehen?
Optimalerweise – und wenn der Patient das möchte – sind Angehörige bereits beim Diagnosegespräch dabei. Das hat den Vorteil, dass vier Ohren zuhören, man sich nach dem Gespräch austauschen kann und nach dem Gespräch nicht allein ist. Familie und Freunde sind aber nicht nur eine wichtige Stütze, sie leiden auch selbst mit. Nicht selten stellt sich Überforderung ein, die auch im Rahmen gemeinsamer Gespräche thematisiert werden sollte.
Wie sagt man Kindern, dass Mama oder Papa Krebs haben?
Der erste Reflex vieler Eltern ist, den Krebs zu verschweigen, um Kinder zu schützen. Kinder spüren aber sofort, wenn es den Eltern nicht gut geht – und sie wollen verstehen, warum. Lässt man sie im Ungewissen, fühlen sie sich ausgeschlossen und malen sich in der Fantasie vielleicht Dinge aus, die bedrohlicher sein können als die Realität. Kinder sollten rechtzeitig und dem Alter angemessen informiert werden. Man muss nicht alles im Detail schildern, aber Ehrlichkeit ist enorm wichtig. Auch Veränderungen im Alltag – Mama ist oft müde und erschöpft, verliert ihre Haare – sollten angesprochen werden. Und Kinder müssen in ihrer Reaktion ernstgenommen werden, sonst können daraus traumatische Erfahrungen entwachsen. Auch hier kann man sich psychologischen Rat holen beziehungsweis die Kinder gegebenenfalls zu den Gesprächen mitnehmen.
Tun sich Männer schwerer, psychoonkologische Hilfe anzunehmen?
Es stimmt, dass Frauen mehr Hilfsbedarf äußern als Männer. Es ist unsere Aufgabe, bei beiden Geschlechtern gleichermaßen das Interesse für diese Form der Unterstützung zu wecken und die Sinnhaftigkeit zu erklären. Das heißt: aktiv auf Patientinnen und Patienten zugehen.
Ist der Krebs für viele Menschen ein Anlass, ihr Leben radikal umzukrempeln?
Definitiv. Der Großteil der Patientinnen und Patienten erlebt diese Zeit als sehr intensiv. Das Leben vor dem Krebs wird häufig genau reflektiert. Viele stellen sich die Frage, ob und was sie vielleicht falsch gemacht haben. Schuld ist manchmal ein großes Thema – hier gilt es den Druck zu nehmen und den Fokus auf Neuorientierung zu legen. Im Idealfall können Betroffene eine Änderung der eigenen Wertigkeiten im Leben, die eine Krebserkrankung fast immer mit sich bringt, annehmen und Kraft daraus schöpfen. Dann können eigene Bedürfnisse stärker in den Vordergrund rücken.
Wie nimmt man die Angst vor der Rückkehr des Krebses?
Indem man auch bei Nachsorgeuntersuchungen begleitet und dieser Zukunfts- und Todesangst Raum gibt. So kann ein Umgang damit gefunden und Hoffnung gegeben werden.
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