Epidemiologin: "Eine Endemie ist kein wundersamer Zustand"
Die Epidemiologin Eva Schernhammer leitet das Zentrum für Public Health der MedUni Wien, ist außerordentliche Professorin an der Harvard Medical School in Boston, USA, und Mitglied der Gecko-Kommission.
KURIER: Die Einschätzung des Virologen Christian Drosten, wonach die Pandemie vorbei ist, wird vielfach so interpretiert, dass wieder der Zustand vor der Pandemie erreicht ist. Ist das so?
Eva Schernhammer: Grundsätzlich glaube ich auch, dass wir jetzt langsam in eine endemische Phase kommen. Endemie heißt aber nicht, dass alles vorbei ist. Bisher haben wir stark ansteigende Wellen gesehen, bei denen die Reproduktionszahl deutlich über eins lag – eine Person steckte also mehr als eine weitere Person an. Pendelt sich die Reproduktionszahl hingegen bei eins ein – derzeit liegt sie global knapp darunter – spricht man von einer Endemie. Also von einer dauerhaften, relativ gleichbleibenden Zahl an Infektionen in einem geografisch eingegrenzten Gebiet. Das können aber auch dauerhaft relativ viele Infektionen sein.
Wird es noch Wellen geben?
Regional ja, in der Regel kleinere, aber gelegentlich auch größere, so wie das auch bei der Influenza der Fall ist. Dann steckt ein Infizierter wieder mehrere Menschen an und wir haben vorübergehend eine Epidemie. Eine Endemie wird uns sicher eine gewisse Erleichterung bringen, aber sie ist nicht der wundersame Zustand, auf den wir uns freuen dürfen. Das Coronavirus kann weiterhin zu einer großen Belastung des Gesundheitssystems beitragen, zu vielen Krankenständen. Malaria und HIV sind auch in vielen Regionen endemisch und deshalb nicht ungefährlich. Eine Endemie ändert auch nichts daran, dass rund zehn Prozent der Infizierten an Long-Covid leiden. Und die Virusentwicklung muss man weiter überwachen.
Nur weil es jetzt so aussieht, dass wir langsam in eine endemische Phase kommen, heißt das nicht, dass man schlampig werden kann und nicht mehr aufpassen muss – als einzelner und auch auf der Ebene der Staaten. Wir sollten immer gerüstet sein für das Auftreten einer neuen Virusvariante. Nachlässigkeit bei der Virusüberwachung kann das Auftreten neuer Varianten begünstigen.
Sie sprechen aber auch von einem sozialen Ende der Pandemie? Was meinen Sie damit?
Das soziale Ende tritt dann ein, wenn die Gesellschaft nicht mehr bereit ist, die Maßnahmen mitzutragen. Da haben auch Kommunikationsprobleme dazu geführt, dass irgendwann einige Menschen nicht mehr mitmachen wollten. Das war übrigens auch bei der Spanischen Grippe so, dass die Menschen irgendwann gesagt haben, jetzt ignorieren wir die Pandemie und versuchen wieder wie früher zu leben.
Wird jetzt die Selbstverantwortung größer?
Das wurde sie ja bereits und wird sie künftig noch mehr. Ich glaube, dass viele Schutzmaßnahmen wie Händewaschen oder Masken ins kollektive Bewusstsein übergegangen sind – so wie der Gurt beim Autofahren oder der Helm beim Skifahren. Dass man etwa bei dreifachen Infektionswellen wie derzeit Masken auch freiwillig dort aufsetzt, wo viele Menschen zusammen sind.
Wichtig wird es sein, eine Balance zu finden. Wir brauchen die Masken nicht in allen Lebenssituationen, aber sie werden etwa zum Schutz von vulnerablen Personen wichtig bleiben.
Und das war ja auch eine positive Erfahrung in der Pandemie: Dass wir vor allem zu Beginn als Gesellschaft in der Lage waren, rasch Veränderungen durchzuziehen, Maske aufzusetzen, zu Hause zu bleiben, Schulter an Schulter Maßnahmen zu setzen.
Waren die Maßnahmen in Österreich zu streng?
Im Nachhinein lässt sich immer leicht kritisieren, aber ich habe das – in der Gesamtbetrachtung – nicht so empfunden. Die Lockdowns etwa sind aus einer großen Unsicherheit heraus entstanden, weil man nicht sicher einschätzen konnte, wie sich die weitere Virusausbreitung auswirken wird. Manche Staaten haben vorsichtiger reagiert als andere. Persönlich bin ich sehr froh, dass Österreicher eher auf der vorsichtigen Seite stand.
In Schweden gab es gar keine Lockdowns und Schulschließungen, die Übersterblichkeit war geringer.
Österreich hat aufgrund seiner geografischen Lage eine ganz andere Ausgangssituation. Wir haben acht angrenzende Länder, wir wohnen enger zusammen. Die Vergleiche sind sehr sehr schwierig zu ziehen, wenn man alle Faktoren zusammen sieht. Gerade in Schweden kam es am Anfang der Pandemie zu einem – aus heutiger Sicht – unnötig hohen Sterben älterer Menschen. Wenn man auch vieles andere an die dortigen Gegebenheiten angepasst gut gemacht hat, aber da hat man zu wenig Sorgfalt walten lassen, vulnerable Gruppen zu schützen. In den skandinavischen Ländern ist auch die Durchimpfungsrate höher.
Was die Schulschließungen betrifft, hat Österreich ja sehr früh die Teststrategie in den Schulen ausgebaut – und sie hat ermöglicht, die Schulen wieder offen zuhalten. Österreich hat da eine gewisse Vorreiterrolle übernommen und die Schulen sind nach Einführung der Teststrategie ja auch nie mehr geschlossen worden.
Vielfach war von einer Spaltung der Gesellschaft, ausgelöst durch die Anti-Corona-Maßnahmen, die Rede. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft gespalten ist. Unter Stresssituationen neigen viele Menschen dazu, zu dramatisieren und schwarz-weiß zu malen. Und sie halten sich an Dingen und Vorstellungen an, die ihnen sinnvoll erscheinen, das gibt einfach Sicherheit. Aber ich denke, dass sich dies ändern wird. Und man muss auch eines sehen: Auch wenn unsere Impfrate im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nicht die beste war und ist, so ist die Durchimpfungsrate bei der Corona-Schutzimpfung trotzdem bemerkenswert etwa zu Influenza, wo es viel viel weniger sind.
Gibt es etwas, womit Sie vor knapp drei Jahren nicht gerechnet hätten?
Ich hatte nicht gedacht, dass es so lange dauern wird. Wie viele andere hatte auch ich nach dem ersten Jahr erwartet, dass, sobald wir die Impfungen haben, das Gröbste hinter uns liegt. Dass die Impfungen zwar sehr gut vor schweren Erkrankungen schützen, aber – auch aufgrund der immer neuen Virusvarianten – nur beschränkt vor Infektionen, das war mir nicht so klar. Trotzdem haben die Impfstoffe entscheidend dazu beigetragen, dass wir heute über ein Ende der Pandemie reden können. Und die Hoffnung ist, dass jetzt Impfstoffe entwickelt werden, die auch vor Ansteckungen besser schützen.
Es war ein ausgesprochen glücklicher Zufall, dass es durch jahrelange Vorarbeit gelungen ist, die Entwicklung der Impfstoffe zu beschleunigen. Mittlerweile sind zwei Drittel der Weltbevölkerung geimpft. Es gibt keine andere Impfung, die von so vielen Menschen in so kurzer Zeit wahrgenommen worden ist.
Das Sicherheitsprofil ist bestens dokumentiert mittlerweile. Da ist schon Großes gelungen. Jetzt geht es darum, die Impfungen so zu verbessern, dass sie einen bleibenden Schutz bieten können und ähnlich wie bei der Grippeimpfung vielleicht nur mehr einmal im Jahr eine Impfung notwendig macht und dann wahrscheinlich konzentriert auf die Personengruppen, die am ehesten in Gefahr sind, schwer zu erkranken.
Corona wurde auch oft mit Influenza verglichen, was die Gefährlichkeit betrifft.
Den Vergleich mit der Influenza habe ich immer eher als fahrlässig empfunden. Die Influenza ist ein gefährliche Erkrankung, aber die Vergleiche haben eher zu einer Verharmlosung geführt nach dem Motto, es ist eh nur wie die Influenza. Die Influenza kann bei ähnlichen Personengruppen zu schweren Verläufen führen. Nur hat man eben das wahnsinnige Glück, dass die Influenza deutlich weniger ansteckend ist als Corona. Um wieder die Reproduktionszahl zu zitieren, die liegt bei Influenza bei 1,2 bis 1,5 (10 Infizierte stecken 12 bis 15 Personen an, Anm.). Corona liegt, wird mittlerweile aus China berichtet, bei 16 (10 Infizierte stecken 160 andere Menschen an). Also es handelt sich hier um eine ganz andere Dynamik. Daher sind die Grippe-Epidemien bisher relativ glimpflich verlaufen, obwohl trotzdem in schweren Grippewellen Tausende Menschen daran versterben.
Wie schätzen Sie die Situation in China ein?
Für mich ist China momentan schon ein bisschen eine Sorge, wenn so viele Menschen gleichzeitig infiziert werden. Da könnte man schon vermuten, dass die Möglichkeit für neue Virenvarianten größer ist. Es gibt natürlich auch da Gegenstimmen, die meinen, vielleicht ist das Risiko sogar geringer, weil die Immunitätslage so uniform, so einheitlich ist in China, dass das Virus da durchrauschen kann. Es müsse sich nicht viel adaptieren und daher werde in punkto neuer Varianten nichts passieren. Es ist ein letztes natürliches Experiment, das da gerade vor unseren Augen abläuft.“ Die USA z. B. schauen da gerade genau hin und verstärken die Kontrollen bei den Einreisenden aus China, um möglichst rasch neue Varianten zu entdecken.
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