Ausschläge nach 3. Covid-Impfung: Risiko für Nesselsucht-Symptome?
Silvie Gross ist alles andere als eine Impfgegnerin. Geimpft ist sie trotzdem nicht: "Mir haben meine Ärzte aufgrund meiner Krankheitsgeschichte abgeraten. Ich habe auf verschiedene Medikamente und Impfungen in der Vergangenheit mehrfach mit einem allergischen Schock und einer Verschlechterung meines Krankheitsbildes reagiert, dass ich seit mehr als zehn Jahren keine einzige Impfung mehr erhalten habe und auch bei anderen Medikamenten extrem aufpassen muss."
Die psychologische Beraterin und Supervisorin Gross ist Gründerin des Urtikaria-Verbandes und von einer besonders schweren Form der Urtikaria ("Nesselsucht") betroffen.
Dabei handelt es sich um eine Erkrankung, die zu quälend juckenden Quaddeln und/oder Haut- bzw. Schleimhautschwellungen (Angioödeme) führt und verschiedene Ursachen haben kann – von physikalischen Reizen, bakteriellen und viralen Infekten (auch Covid-19), allergische Reaktionen (etwa auf Nahrungsmittel oder Medikamenteninhaltsstoffe) bis zu überschießenden Reaktionen des Immunsystems (Autoimmunerkrankung).
"Viele Urtikaria-Patienten haben keinerlei Probleme. Aber bei uns haben sich besonders nach der dritten Impfung viele Menschen gemeldet, die entweder von einer Verschlechterung ihrer Urtikaria oder von ganz neu auftretenden Hautausschlägen berichtet haben. Konkret haben bei einer Umfrage des Verbandes mehr als 600 Menschen angegeben, nach der Impfung von Urtikaria-Symptomen neu oder verstärkt betroffen gewesen zu sein", sagt Gross.
Sie betont, dass es nicht generell um Urtikaria-Patientinnen und -Patienten geht. "Für den Durchschnittspatienten mit leichter bis mittelschwerer Urtikaria scheint die Impfung eher unproblematisch zu sein. Aber es gibt Patienten mit schweren Verlaufsformen, die besorgt sind, dass durch die Impfung eine immunologische Reaktion ausgelöst wird, die dann dazu führt, dass sich der Gesundheitszustand weiter verschlechtert." Das seien Patienten, die an mehrfachen Medikamentenunverträglichkeiten leiden, wie es auch bei ihr der Fall sei: "Sollte jemals die Impfpflicht in Kraft treten, müssten solche Patienten auf jeden Fall ausgenommen werden", sagt Gross.
In der Schweiz sind laut einer Mitteilung der Arzneimittelbehörde Swissmedic bis 5. April 1.060 Meldungen einer Urtikaria im zeitlichen Zusammenhang (0 bis 72 Tage) mit einer Covid-Impfung eingegangen. Die meisten Fälle betreffen die dritte Impfung mit dem Impfstoff Spikevax von Moderna.
75 Prozent der Meldungen seien von den Betroffenen selbst gesendet worden. "Urtikaria ist eine relativ häufige Erkrankung, die mit vielen unterschiedlichen Ursachen in Verbindung gebracht wird", schreibt die Behörde: "Dies muss in Betracht gezogen werden, wenn man die gemeldeten Fälle vor dem Hintergrund von über 2,1 Millionen verabreichten Booster-Impfungen mit Spikevax bewertet."
Bei Swissmedic betont man aber auch, dass „bislang Meldungen über Urtikaria nach Booster-Impfung vor allem in der Schweiz auffällig sind.“ Ob hierfür allein eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber diesen Reaktionen in der Schweiz ursächlich ist, oder andere Faktoren eine Rolle spielen, "ist noch nicht abschließend geklärt".
"Es geht immer um Nutzen-Risiko-Abwägung"
Daniel Aletaha, Leiter der Abteilung für Rheumatologie der MedUni Wien / AKH Wien, spricht "von einer ganz schwierigen Diskussion, die nicht Schwarz und nicht Weiß ist und bei der es immer um eine Nutzen-Risiko-Abwägung geht".
"Patienten mit einer Autoimmunerkrankung haben bei einer Impfung, egal welcher, immer ein etwas höheres Risiko eines Schubs, einer zumindest vorübergehenden Verschlechterung – das gilt aber für eine Infektion genauso wie für eine Impfung. Aber als behandelnder Arzt kann ich bei jenen Patienten mit einem hohen Risiko einer stärkeren Reaktion auf eine Impfung medikamentöse Begleitmaßnahmen setzen, um zu verhindern, dass es zu einer Verschlechterung der Grunderkrankung kommt. Gleichzeitig kann ich diese Patienten aber nicht davor schützen, dass sie schwer an Corona erkranken, wenn sie sich nicht impfen lassen", unterstreicht Aletaha.
Es sei jedenfalls nicht der Fall, dass bei Autoimmunerkrankungen generell Schübe nach der Covid-Impfung auftreten: "Das ist sehr selten, und meist sind es milde Reaktionen." Und es gebe auch vereinzelt schwere Fälle von neuen Autoimmunerkrankungen, die bei bisher Gesunden aufgetreten sind. "Aber das sind Einzelfälle, die auftreten können, wenn Millionen Menschen geimpft werden. Das spricht nicht gegen die Impfungen."
Rheumatologe Aletaha führt derzeit eine große Studie durch, bei der 4.000 Geimpfte Nebenwirkungen nach der dritten Impfung berichten sollen. "Nach unseren bisherigen Daten sind diese völlig vergleichbar mit anderen Medikamenten und anderen Impfungen. Bisher haben wir hier keine Auffälligkeiten gesehen – auch keine Häufung von Urtikaria oder anderen schwereren Nebenwirkungen."
Gleichzeitig sei aber gerade bei Patienten mit einer Autoimmunerkrankung wie einer schweren Urtikaria-Form, Lupus oder auch rheumatoider Arthritis etwa, die Medikamente bekommen, die das Immunsystem dämpfen, "das Risiko, schwer an Covid zu erkranken, erhöht".
Auch der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, betont, "dass bei jeder Infektion oder Impfung das sehr seltene Risiko besteht, dass ein Schub ausgelöst wird. Das ist auch bei der Covid-19-Impfung nicht anders und ist kein genereller Impfausschluss."
Ein Impfhindernis ist allerdings laut Gesundheitsministerium "von einem Allergologen oder einer Allergologin bestätigte Allergie oder Überempfindlichkeit gegen einzelne Inhaltsstoffe" von Covid-19-Impfstoffen. Dies ist aber ein extrem seltener Fall, betonen Allergiespezialisten.
"Nebenwirkungen sehr gut beherrschbar"
Der Dermatologe und Allergologe Werner Aberer, bis 2018 langjähriger Vorstand der Uni-Klinik für Dermatologie und Venerologie der MedUni Graz, hat viel Erfahrung mit Urtikaria-Patientinnen und -patienten. "Gerade bei jenen, bei denen die genauen Ursachen der Erkrankung nicht bekannt sind, gibt es viele Ängste aufgrund ihrer Erfahrungen mit Reaktionen auf Impfungen oder Medikamente in der Vergangenheit. Diese Ängste sind immer berechtigt und müssen ernst genommen werden. Und wir Ärzte können im Vorhinein nicht sagen, wie sie reagieren werden. Aber in den meisten Fällen sind auftretende Nebenwirkungen sehr gut beherrschbar."
Aberer betont, dass eine Urtikaria oder eine andere immunologische Erkrankung nie ein genereller Ausschlussgrund für eine Impfung ist: "Aber es gibt diese wenigen Patienten, die wirklich ausgeprägte Symptome auf eine Impfung entwickeln und die berechtigte Angst haben, dass etwas losgetreten werden könnte. Nicht das Krankheitsbild macht den Impfausschluss – sondern die Anamnese des Patienten. Aber das sind Einzelfälle, die individuell vom behandelnden Spezialisten abgeklärt werden müssen."
"Risikopatienten für schwere Infektionen"
Und Aberer unterstreicht: "Gerade Patienten mit Autoimmunerkrankungen sind Risikopatienten für schwere Infektionen. Deshalb hätte ich es natürlich grundsätzlich lieber, wenn sie geimpft sind. Ich kann nur nicht 100-prozentig vorhersagen bei jedem, dass er diese Impfung vertragen wird. Aber was ich aus meiner eigenen Erfahrung sagen kann: Bei den allermeisten dieser Patientinnen und Patienten ist der zu erwartende Nutzen der Impfung eindeutig größer als der zu befürchtende Schaden."
Und es gebe auch keine Hinweise darauf, dass dies bei den mRNA-Impfstoffen anders sei als bei allen anderen Vakzinen, betont Aberer.
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