Gasversorgung: Banges Warten auf Moskaus Entscheidung
Morgen, Donnerstag, endet das routinemäßige Wartungsintervall für die Ostseepipeline Nord Stream 1. Dann wird sich zeigen, ob und in welchem Ausmaß Gazprom die Lieferungen nach Deutschland wieder aufnimmt.
Laut dem Unternehmen Gascade, das die Empfangspunkte der Pipeline im deutschen Lubmin betreibt, sind für Donnerstag wieder Gaslieferungen angekündigt. Ob und in welchem Ausmaß diese eintreffen, steht aber nicht fest. Es gebe "aktuell keinerlei Sicherheiten, dass Putin die Pipeline nach der Wartung wieder in Betrieb nimmt", warnt das Klimaschutzministerium in einer Aussendung. In Europa wälzt man Szenarien, dabei ist allen klar: Der staatsnahe russische Konzern handelt im strategischen Interesse von Putins Regierung.
Szenario 1 - Vollbetrieb
Wenn die Lieferungen nach der Wartung wieder das vertraglich vereinbarte Niveau erreichen, kommt es in Deutschland zu keinem Gasengpass. "Käme es so und würde Nord Stream 1 also wieder voll ausgelastet, könnten die deutschen Speicher wohl weiter wie geplant und gesetzlich vorgeschrieben aufgefüllt werden", sagte Klaus Müller, Chef der deutschen Bundesnetzagentur.
Dieser jahrelange Normalfall ist heuer allerdings die unwahrscheinlichste Variante, denn dadurch würde Russlands Präsident Wladimir Putin sein größtes Druckmittel gegenüber Europa verlieren.
Szenario 2 - Verzögerung
Viele Beobachter halten es für realistisch, dass die Gas-Lieferungen weiter verzögert werden. Einen Grund hat Russland bereits vorgelegt: Nämlich wartet Gazprom auf eine Turbine, die in Kanada gewartet wurde. Die Lieferung zurück an Gazprom hat sich wegen der kanadischen Sanktionen verzögert. Der genaue Standort des Geräts ist geheim, Medienberichten zu Folge könnte es bis Ende der Woche dauern, bis die Turbine bei Gazprom ist. Und dann müsste sie erst noch eingebaut werden. Müller hat bereits vor Tagen erklärt, er rechne damit, dass die Pipeline-Wartung heuer ein paar Tage länger dauern könnte.
Dass die Gas-Lieferung an technischen Problemen scheitert, glaubt man in Deutschland nicht. Die angeblich fehlende Turbine ist laut dem deutschen Wirtschaftsministerium ein Ersatzgerät, das eigentlich erst im September zum Einsatz kommen sollte.
Szenario 3 - Drosselung
Als wahrscheinlich gilt, dass Russland die Lieferungen früher oder später zwar wieder aufnimmt, die Mengen aber reduziert. Bereits seit Mitte Juni hat Gazprom nur etwa 40 Prozent der vereinbarten Menge geliefert und Putin hat am Mittwoch erklärt, dass die täglichen Durchlasskapazitäten Ende Juli - also nach Wiederaufnahme der Lieferungen auf dem Niveau vor der Wartung - erneut fallen könne. Dann würde nur noch ein Fünftel der vereinbarten Menge nach Deutschland fließen. Als Grund gab der Kreml-Chef die anstehende Wartung einer weiteren Turbine an.
Ob dadurch das Gas in Deutschland und Europa knapp werden würde, hängt von mehreren Faktoren ab. Zum einen natürlich am Ausmaß der Reduktion, aber auch davon, ob die von Deutschland geplanten Flüssiggas-Terminals plangemäß fertiggestellt werden können und ob ausreichend Gas am Weltmarkt verfügbar ist.
Putin will mit diesen Ankündigungen möglicherweise die Zulassung der Pipeline Nord Stream 2 erreichen: "Wir haben noch eine fertige Trasse - das ist Nord Stream 2. Die können wir in Betrieb nehmen", sagte der russische Präsident. Das wäre für Deutschland aber ein massives Einknicken, denn die Zulassung der vergangenes Jahr fertiggestellten Pipeline wurde im Zuge der Ukraine-Krise auf Eis gelegt.
Szenario 4 - Exportstopp
Dass die Lieferungen durch die Nord Stream 1 dauerhaft komplett gestoppt werden, gilt hingegen als relativ unwahrscheinlich. Denn Russland verdient gut an den Gasexporten und hat vermutlich wenig zu gewinnen, wenn sie ausfallen. Ausschließen kann man es aber nicht. "Wir müssen uns auf eine mögliche vollständige Unterbrechung der russischen Gasversorgung vorbereiten", erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
In Europa würden die Gaspreise absehbarerweise stark ansteigen und es käme nach Einschätzung der deutschen Bundesnetzagentur zu einer Knappheit. Wenn der Verbrauch gleichbleibt und sich die Fertigstellung der Flüssiggas-Terminals verzögern sollte, könnte es bereits im Dezember zu Rationierungen kommen.
1224 Kilometer
ist die Nord Stream 1 am Grund der Ostsee lang. Sie verbindet das russische Wyborg mit dem deutschen Lubmin.
55 Milliarden
Kubikmeter Erdgas sind vergangenes Jahr durch den Doppelstrang geflossen. Damit ist Nord Stream 1 die meistgenutzte Pipeline zwischen Russland und Europa.
10 Tage Wartung
Pipelines werden jährlich gewartet, für gewöhnlich im Sommer, wenn weniger Gas gebraucht wird.
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