In der europäischen Gasversorgung ist seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Das macht sich stark in der zugehörigen Infrastruktur bemerkbar, denn die neuen Gasströme können nur teilweise auf den alten Strecken fließen. Die EU-Staaten stemmen Investitionen in Milliardenhöhe – in eine fossile Technologie, von der man eigentlich wegkommen wollte.
Vereinfacht dargestellt wurde Erdgas in Europa bisher vorrangig von Norden und Osten nach Süden und Westen transportiert. Denn etwa 40 Prozent der Importe kamen aus Russland und dementsprechend gut ausgebaut waren die Pipeline-Verbindungen (Nord Stream, Jamal, sowie die Routen durch Ukraine und Türkei, siehe Grafik). Importierten die EU-Staaten 2021 nach Zahlen der International Energieagentur (IEA) 140 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland, waren es 2022 nur noch 60 Milliarden Kubikmeter. Insgesamt haben die EU-Staaten 2021 etwa 380 Milliarden Kubikmeter Gas verbraucht.
Da mit der Nord Stream 1 die wichtigste Pipelineverbindung zerstört wurde, ist jedenfalls davon auszugehen, dass es 2023 weniger sein wird. Die Lieferungen, die die EU-Staaten derzeit noch in eingeschränktem Ausmaß durch die Ukraine und die Türkei erreichen, könnten auch gänzlich versiegen, mahnt etwa die IEA.
Neue Wege
Der zweitwichtigste Lieferant war bereits vor dem Ukraine-Krieg Norwegen. Auch die Leitungen, die das Erdgas von dort nach Kontinentaleuropa bringen (Europipe und Europipe II), waren also bereits gut ausgebaut. Polen hat mit der Baltic-Pipeline im Oktober eine direkte Anbindung an diese Fördergebiete eröffnet.
Die EU bezieht ihr Erdgas vermehrt aus Nordafrika. Insbesondere das über Pipelines verbundene Italien hat sich hier zusätzliche Kapazitäten gesichert. In Südosteuropa wurde heuer auch eine Verbindung von Griechenland nach Bulgarien (IGB) eröffnet. So soll aserbaidschanisches Gas, das Griechenland durch die Trans Adriatic-Pipeline durchquert, zusätzlich in den Norden fließen können. Die Pipeline-Verbindung von Litauen nach Lettland wurde ausgebaut, für die zwischen Deutschland und Tschechien ist das bereits beschlossen. In den kommenden Jahren sind europaweit noch mehrere Verbindungen und Netzverdichtungsprojekte geplant.
Mit dem Ausbleiben von russischem Erdgas kam es heuer erstmals zu realen Gasflüssen sowohl von Frankreich nach Deutschland (Megal) als auch von Italien nach Österreich (TAG) – beide Verbindungen transportierten davor russisches Gas in die entgegengesetzte Richtung. Bei der Pipeline NEL, die russisches Gas durch Deutschland Richtung Niederlande gebracht hat, ist das noch nicht möglich, sagt die Gasexpertin Carola Millgramm von der Regulierungsbehörde E-Control zum KURIER. Soll sie künftig in die Gegenrichtung pumpen, muss sie dazu erst "reverse-flow"-fähig gemacht werden.
Flüssiggas-Terminals
Der Brennstoff erreicht Europa inzwischen zum größten Teil nicht mehr über Pipelines, sondern in verflüssigter Form (auch Liquefied Natural Gas, LNG genannt) in Tankschiffen. Der größte Lieferant sind dabei die USA, gefolgt von Katar.
Dementsprechend wird auch die Infrastruktur für den Import auf dem Seeweg ausgebaut. Alleine in den Baltenstaaten sind vier neue Flüssiggasterminals geplant. Deutschland nimmt in diesen Wochen seine ersten zwei in Betrieb, zwei weitere sind geplant. Die Kosten dafür summieren sich bis 2038 auf etwa 10 Milliarden Euro, kalkuliert das Wirtschaftsministerium in Berlin. Unter den Staaten, die ihre LNG-Kapazitäten erweitern (siehe Karte) sind auch Italien und Kroatien. Österreich könnte hier mitprofitieren, als Anbindung an Kroatien fehlt dafür aber auch eine Pipeline durch die Slowakei.
All diese Projekte kosten Geld. Ein Fünftel der knapp 100 mit EU-Geldern als Projekte von gemeinsamem Interesse (Important Projects of Common European Interest, IPCEI) betreffen die Gasversorgung. Die gesamten Investitionskosten aus privatem und staatlichem Kapital für Gasinfrastrukturprojekte, die in Europa derzeit erwogen werden, summieren sich laut einer Aufstellung des Verbands Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber ENTSO-G auf 70 Milliarden Euro. Viele dieser Projekte bestünden bisher allerdings „nur auf dem Papier“, sagt Millgramm, ob sie tatsächlich umgesetzt werden, ist nicht sicher. In der Liste finden sich andererseits aber auch Projekte, deren Kosten noch nicht mal veranschlagt sind.
Abschied von Fossilen?
Längst wird Kritik daran laut, dass die EU-Staaten hohe Summen in fossile Infrastruktur stecken – also in einen Sektor, der eigentlich zugunsten neuerer Technologien und erneuerbarer Energieträger schrumpfen sollte. Die Klimaforschungsplattform Climate Action Tracker (CAT) bezeichnet den Ausbau als "Überreaktion", die korrigiert werden müsse. Zum einen wären die neu geplanten Kapazitäten höher als die Pipeline-Importe aus Russland. Zum anderen wären Investitionen in erneuerbare Energien und Effizienzsteigerungen im Vergleich billiger, schneller und sicherer.
Neue Gasinfrastruktur sollte jedenfalls so gebaut werden, dass sie auch für Wasserstoff funktioniert, sagte IEA-Chef Fatih Birol zum KURIER. Andernfalls würden es bald gestrandete Investitionen sein. Zwar werde Europa "nicht über Nacht" unabhängig von Erdgasimporten, der Bedarf sei aber seit Jahren im Sinken und würde voraussichtlich auch weiter abnehmen.
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