Ein Ende des Ukraine-Krieges ist nicht absehbar
"Wir kämpfen für unser Land. In der Nacht haben wir einige Russen getötet", sagte der junge Soldat mit heiserer Stimme und zog an seiner Zigarette. Er saß an der Kante eines ukrainischen Schützenpanzers, seine Kameraden nickten. Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs, in den Morgenstunden des 25. Februars vergangenen Jahres, rechneten die meisten Militäranalysten mit einer raschen Niederlage der Ukraine.
Schock
Von Norden, Süden und Osten rückten die russischen Streitkräfte rasch vor, waren im Begriff, die Stadt Cherson einzunehmen, fast der gesamte Oblast Lugansk war bald in russischem Besitz – und Kiew drohte von zwei Seiten umschlossen zu werden. Auch der Stadt Charkiw – wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt – wurden zu Beginn des russischen Angriffskriegs keine hohen Überlebenschancen attestiert. Ständiger Beschuss mit Artillerie, immer wieder neue Videos anrollender Panzerkolonnen.
Als jedoch am Sonntag, dem 27. Februar, russische Einheiten von sieben Seiten in die Stadt eindrangen, stellten sich ihnen Soldaten und Freiwillige entgegen, vernichteten die angreifenden Russen. Der KURIER wurde Zeuge eines Gefechts nahe dem Zentrum. Dieser Widerstand sollte landesweit anhalten. Ende März mussten sich die russischen Streitkräfte aus dem gesamten Norden der Ukraine zurückziehen – zu schwach waren die Nachschublinien geschützt, zu erfolglos die Aussichten, Kiew zu erobern.
Abnützungskrieg
Der Kreml änderte sein offizielles Kriegsziel, sprach nur noch davon, den Donbass gänzlich einnehmen zu wollen. An den stark befestigten Frontlinien der Ukraine wurde der Krieg bald zu einem Abnützungskrieg: Massives Artilleriefeuer, Grabenkämpfe, die an die Bilder des Ersten Weltkriegs und damit an das Werk "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque erinnern. Bis September kamen die russischen Streitkräfte nur langsam, aber dennoch stetig voran – ehe die ukrainischen Truppen mit raschen Vorstößen eine Gegenoffensive im Nordosten begannen, die Moskau erhebliche Gebietsverluste kostete. Wenige Wochen später musste Putin auch die Stadt Cherson am westlichen Ufer des Flusses Dnepr aufgeben und sich aus einem Gebiet zurückziehen, das er eigentlich bereits völkerrechtswidrig annektiert hatte.
Das russische Militär lernte dazu, befestigte die Frontabschnitte in den besetzten Gebieten – und glich die Verluste durch eine Teilmobilmachung aus. Spätestens seit Ende Jänner haben die russischen Streitkräfte die Initiative an allen Frontabschnitten wiedererlangt, stürmen derzeit unter massiven Verlusten gegen verschiedene Städte an. Bachmut – seit Juni vergangenen Jahres belagert – dürfte langsam aber sicher eingekesselt werden, gleichzeitig versuchen russische Verbände die Stadt Wuhledar im Süden einzunehmen. Bisher erfolglos. Auch im Abschnitt nördlich von Bachmut konnten die russischen Streitkräfte Geländegewinne erzielen.
Ausblick
Wie der Krieg konkret weitergehen wird, lässt sich nicht prognostizieren – dafür spielen zu viele Faktoren eine Rolle, etwa die Unterstützung des Westens oder die Frage, ob China Russland tatsächlich mit Waffen beliefern wird. Ab April dürften die ersten westlichen Kampfpanzer auf dem Schlachtfeld stehen – wie erfolgreich sie sein werden, liegt an der Ausbildung der ukrainischen Soldaten, denn auch ein Leopard 2-Kampfpanzer ist keine Wunderwaffe.
Auch dass der Kreml aufgrund massiver Verluste in den Reihen seiner Soldaten in nächster Zeit in Friedensverhandlungen gehen könnte, halten Experten für unrealistisch: "Wir müssen verstehen, dass diese Mentalität der Gefühlslage des Westens gegenteilig entgegensteht", sagt etwa der pensionierte US-Viersternegeneral Wesley Clark und fährt fort: "Wir sagen: Oh, das ist so schrecklich, all diese Menschen sterben, können wir das Blutvergießen nicht stoppen? Aber so denkt Putin nicht." In zwei Jahrhunderten russischer Kriegsführung habe ein Menschenleben nicht viel gezählt, die Ansicht, dass die Russen nur noch ein paar Hunderttausend Opfer mehr brauchen, um aufzugeben, "ist eine westliche Vorstellung, die nichts mit der Realität zu tun hat."
Wahrscheinlich ist, dass sowohl Moskau als auch Kiew versuchen werden, mit Offensiven eine Entscheidung herbeizuführen. Ein plausibles Ziel der Ukraine wäre es, im Süden des Landes auf die Stadt Melitopol vorzurücken und somit die russischen Gebiete zu durchtrennen. Die russischen Streitkräfte wiederum dürften derzeit Schwachstellen der ukrainischen Verteidigung austesten – und dort mit größeren Verbänden zuschlagen. Fix ist: Der blutige Krieg wird auch nach einem Jahr mit unverminderter Härte weitergehen.
Unterstützungszahlungen
Ob die Ukraine langfristig eine Chance gegen die übermächtigen russischen Streitkräfte hat, hängt davon ab, wie viel Ausrüstung und finanzielle Unterstützung sie bekommt. Die folgende Grafik gibt einen Überblick, welche Staaten bisher wie viel Unterstützung leisten.
Wer im Ukraine-Krieg welche Rolle spielt
Die USA überlegen, tausende Soldaten in die baltischen Staaten zu schicken, und die Nato behält ihre Truppen in Bereitschaft. Mehr Schiffe und Kampfflugzeuge sollen die Position des westlichen Bündnisses gegen Moskau stärken, während die Europäische Union – wie von Kiew gefordert – über härtere Sanktionen verhandelt. Doch wie stehen die verschiedenen Staaten und Akteure eigentlich zu dem Konflikt?
Der russische Präsident gab zu Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine die Devise aus, Kiew einzunehmen, die Regierung zu stürzen und eine moskautreue Marionettenregierung zu installieren. Ein Fehlschlag, ebenso die Annahme, Städte wie Charkiw würden sich rasch den russischen Truppen anschließen. Auch die Eroberung Odessas ist für Moskau in weite Ferne geraten, allerdings haben die russischen Streitkräfte an der Front im Osten derzeit die Initiative. Dennoch kommen sie nur langsam voran.
Der ukrainische Präsident hätte die Möglichkeit gehabt, bei Kriegsbeginn zu fliehen – tat dies jedoch nicht. Während er vielen seiner Landsleute dadurch als Beispiel gilt, durchzuhalten, scheiden sich an ihm in westlichen Bevölkerungen die Geister. Sehen die einen seine Forderungen nach Geld und Waffen als legitim an, ist er für andere – meist prorussisch eingestellt - ein „Kriegstreiber“. Starken Rückhalt genießt er allerdings vonseiten der meisten westlichen Regierungen.
„Die Ukraine wird niemals ein Sieg für Russland sein“, sagte der US-Präsident am Dienstag – einen Tag nach seinem Besuch in Kiew. Ein Gewinner des Ukraine-Krieges sind die USA, die Kiew zwar massiv mit Waffen versorgen, doch stets dann, wenn es fast zu spät ist – wie etwa bei der Luftabwehr. Einerseits reagiert Biden stets auf russische Eskalationen und will so die Eskalationsspirale klein halten. Andererseits werfen ihm einige Pro-Ukrainer vor, dadurch den Krieg in die Länge zu ziehen.
Er will sich so gut es geht aus dem Krieg heraushalten - doch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat keine Wahl: Vor dem 24. Februar 2022 war sein Land russisches Aufmarschgebiet, nach wie vor befinden sich zahlreiche russische Truppen in Belarus, werden Raketenangriffe von dort gestartet. Und kürzlich veröffentlichten Dokumenten zufolge will Putin sein Land bis 2030 annektieren. Derzeit verfügt Belarus über eine zu schwache Truppe, um tatsächlich in den Krieg einzugreifen.
Der türkische Präsident geriert sich als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine, konnte etwa das Getreideabkommen vermitteln, liefert Kiew Waffen und macht mit Moskau gemeinsame Sache beim Bau neuer Energieanlagen. Erdogan beteiligt sich nicht an den Sanktionen gegen Russland, die geschundene türkische Wirtschaft profitiert von Geschäften mit dem Kreml. Erdogan weiß um den Wert der geostrategischen Lage seines Landes – und gilt Beobachtern als Hoffnungsträger für Friedensgespräche.
Die EU-Kommissionspräsidentin stellte Kiew im Juni einen Beitritt zur EU in Aussicht. Nach derzeitigen Regeln dürfte sie aber wohl frühestens im nächsten Jahrzehnt Mitglied werden. Grund sind die vielen Voraussetzungen, die es zu erfüllen gilt. Selbst für den Start der Beitrittsverhandlungen gibt es bislang kein grünes Licht der EU-Staaten. Unter von der Leyen verhängte die EU zahlreiche Sanktionen gegen Russland und bildet ukrainische Soldaten aus.
Nach Meinung von Frankreichs Präsident kann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nur durch Verhandlungen ein Ende finden. "Ich will die Niederlage Russlands in der Ukraine und ich will, dass die Ukraine sich verteidigen kann, aber ich bin überzeugt, dass das letztlich nicht militärisch abgeschlossen wird", sagte er unlängst. Auch wolle er Russland nicht zerstören. Zu möglichen Nachfolgern des Putins innerhalb des aktuellen Systems sagte Macron, dass sie ihm schlimmer erschienen.
Der deutsche Kanzler rief knapp nach Beginn des Krieges eine „Zeitenwende“ aus, wollte 100 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr. Diese Initiative stottert nach wie vor. Dennoch lieferte Deutschland Haubitzen, Flugabwehrpanzer, Flugabwehrsysteme, Schützen- und zuletzt Kampfpanzer. Kritiker sehen ihn als Zögerer, Befürworter als abwägenden Regierungschef, der mit Bedacht an die Sache herangehen will. In der NATO allerdings steht Deutschland durch Scholz‘ Abwarten schlecht da.
Bilanz des ersten Kriegsjahres
100.516 km2 des ukrainischen Territoriums kontrollierte Russland Ende Jänner. Das entspricht 16,65 Prozent der Gesamtfläche. Miteinbezogen sind dabei die 42.000 km2, die der Kreml seit 2014 kontrolliert.
Millionen Flüchtlinge
Mehr als acht Millionen Ukrainer sind nach Angaben des UNHCR seit Kriegsbeginn geflüchtet, die meisten von ihnen nach Polen, wo 1,5 Millionen untergekommen sind. Mehr als vier Millionen Ukrainer wurden innerhalb des Landes vertrieben.
Russische Verluste von Ausrüstungen
Russland gilt als eine der schlagkräftigsten Militärmächte weltweit und verfügt über einen großen Bestand an militärischen Ausrüstungen. Diese Statistik zeigt eine Zwischenbilanz zu den russischen Verlusten von militärischen Fahrzeugen, Fluggeräten und Ausrüstungen knapp 1 Jahr nach Kriegsausbruch.
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