Österreich will weiter nach Afghanistan abschieben - aber wie?
Österreich ist mit seiner Linie, weiterhin nach Afghanistan abschieben zu wollen, massiv in Erklärungsnot. Dass Rückführungen von Flüchtlingen in das Land, in dem die Taliban zunehmend an Boden gewinnen, de facto nicht mehr möglich sind, wird immer offensichtlicher. Nach Deutschland und den Niederlanden am Mittwoch verkündete am Donnerstag auch Frankreich, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen (mehr dazu hier).
Eine Chronologie - und ein Ausblick:
Bereits im Juni bat die afghanische Regierung die EU-Kommission, Abschiebungen in ihr Land vorläufig auszusetzen. Der Stopp sollte von 8. Juli bis 8. Oktober dauern.
Weil sich die Lage im Land weiter verschlechtert hat, stellten erst Schweden und Finnland und schließlich auch Norwegen im Juli ihre Abschiebungen nach Afghanistan ein.
Am 17. Juli meldete auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex, dass temporär dorthin keine Abschiebeflüge mehr organisiert werden. In Österreich betonte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hingegen, dass die Rückführungen sogar noch forciert werden sollen.
Am 3. August gab es gleich zwei massive Dämpfer: Ein Flug, den Österreich gemeinsam mit Deutschland organisiert hatte, musste kurzfristig abgesagt werden: Grund war, dass es wegen Gewalteskalationen in der Hauptstadt Kabul keine Landeerlaubnis für den Flieger aus München gab.
Am selben Tag erreichte ein Schreiben des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Republik: Gegen die Abschiebung eines jungen Afghanen, der bereits rechtskräftig negativ beschieden worden war, wurde eine einstweilige Verfügung erlassen. Österreich muss bis 31. August erklären, wieso man trotz der prekären Sicherheitslage weiterhin abschieben will.
Am 6. August wurde die afghanische Botschafterin in Wien, Manizha Bakhtari, ins Außenministerium zitiert. Bakhtari hatte zuvor ebenfalls gebeten, die Abschiebungen einzustellen: „Wir sind nicht in der Lage, Abgeschobene aufzunehmen."
Im Außenministerium war man ob der Bitte "überrascht", es habe zuletzt "anderslautende Signale" gegeben. Eine Aussetzung stehe jedenfalls nicht zur Debatte, wurde betont.
Innenminister Nehammer scharte daraufhin seine Verbündeten um sich: Gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Deutschland, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Griechenland schickte er einen Brief an die EU-Kommission in Brüssel. Die sechs Staaten forderten, dass sich die Kommission "aktiv einbringt", damit Abschiebeflüge weiterhin möglich sind.
Gestern, am 11. August, dann der nächste Dämpfer. Zwei wichtige Verbündete sind abgesprungen: Deutschland und die Niederlande.
CDU-Minister Horst Seehofer ließ ausrichten: "Der Bundesinnenminister hat aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden, Abschiebungen nach Afghanistan zunächst auszusetzen."
Auch in den Niederlanden wurde ein Abschiebestopp von zunächst sechs Monaten beschlossen, erklärte Justizministerin Ankie Broekers-Knol in einem Brief an das Parlament. Eigentlich habe die Regierung ihre Afghanistan-Politik erst im Oktober aktualisieren wollen. "Im Lichte der sich schnell verschlechternden Lage“ sei dies nun vorgezogen worden.
Und jetzt?
Im Innenministerium in Wien beharrt man am Mittwoch darauf: "Ein faktisches Aussetzen von Abschiebungen steht derzeit nicht zur Diskussion", sagte ein Sprecher. Die Lage in Afghanistan werde gemeinsam mit dem Außenministerium laufend beobachtet und beurteilt. Bei dieser Ansage blieb es auch nach KURIER-Anfrage am Donnerstag.
Praktisch ist eine Abschiebung unter den derzeitigen Bedingungen aber so gut wie unmöglich: Erstens, weil Österreich bisher gemeinsam mit Deutschland oder zuvor über Frontex Flüge organisiert hat. Beide sind aus dem Spiel. Den letzten Charterflug nach Afghanistan gab es am 16. Juni (!), also vor fast zwei Monaten.
Österreich will sich dem Vernehmen nach ab sofort selbst um Flüge kümmern. Welche Fluglinie sich darauf einlässt, ist fraglich. Ebenso, ob so ein Flieger überhaupt in Kabul landen darf (siehe Vorfall am 3. August). Derzeit kommt man auch als Normalbürger nur über Umwege nach Afghanistan: Entweder von Wien nach Istanbul und von dort mit den Turkish Airlines nach Kabul, oder über Dubai mit den Emirates.
Zweitens dürften Abschiebungen gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen, wie der EGMR bereits am 6. August zu bedenken gab. Ein Urteil war das noch nicht und freilich ging es um einen Einzelfall. Ein deutliches Signal ist die einstweilige Verfügung aber sehr wohl.
Drittens wird Österreich mit seiner Strategie sehr einsam sein. Wie gesagt: Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Schweden, Finnland und Norwegen haben sich klar gegen Abschiebungen nach Afghanistan positioniert.
Laut neuen Zahlen von Eurostat war die Zahl der Abschiebungen aus Europa schon im Vorjahr nicht berauschend: Nur zwölf von 27 EU-Mitgliedsstaaten haben überhaupt nach Afghanistan abgeschoben. In Summe gab es 1.120 Abschiebungen, davon 125 aus Österreich (siehe Grafik oben).
Wenn man bedenkt, dass afghanische Staatsbürger die zweitgrößte Gruppe bilden, die in Österreich einen Asylantrag stellt (im ersten Halbjahr 2021 waren es 1880 Personen) und diese Anträge zum überwiegenden Teil abgelehnt werden, ist die Zahl der tatsächlichen Abschiebungen schon bemerkenswert gering.
Folgen
Die Tatsache, dass einige der beliebtesten europäischen Destinationen für Flüchtlinge nun offiziell deklariert haben, nicht mehr abzuschieben, soll laut Insidern bereits in den sozialen Netzwerken viral gehen und von Schlepper-Organisationen verbreitet werden. Ob das tatsächlich den Effekt hat, dass sich mehr Flüchtlinge auf den Weg machen (der berühmte "Pull-Effekt"), bleibt abzuwarten.
Österreich hat in den vergangenen Wochen kontinuierlich den Grenzschutz im Burgenland aufgestockt. Nun könnte eine skurrile Situation entstehen: Flüchtlinge, die eigentlich nach Deutschland oder Schweden wollen, weil sie sich dort durch den Abschiebe-Stopp bessere Chancen auf Asyl ausrechnen, könnten auf ihrem Weg an der österreichischen Grenze aufgehalten werden - und müssten dann gezwungenermaßen hier Asyl beantragen.
Reaktionen
Unverständnis für die Haltung des Innenministeriums zeigen die Grünen - konkret die außenmpolitische Sprecherin im Parlament, Ewa Ernst-Dziedzic. Zu glauben, dass Österreich "auf eigene Faust", also ohne Koordination mit anderen EU-Staaten und ohne Landeerlaubnis aus Kabul, Rückführungen organisieren könne, sei "realitätsfern", sagte sie im Ö1-Mittagsjournal. Zudem existierten die "viel zitierten innerstaatlichen Fluchtalternativen" in Afghanistan nicht mehr.
Ähnlich äußerte sich der Völkerrechtsexperte Ralph Janik gegenüber dem ORF-Radio. Faktisch sehe es in nächster Zeit nicht danach aus, dass man abschieben könne. Rechtlich sei "ganz klar", dass man in Bürgerkriegsländer nicht abschieben könne. Die Sicherheit aller Personen, also auch jener, die die Geflüchteten begleiteten, derzeit nicht mehr gewährleistet werden. Auch ökonomisch gelte es zu bedenken, dass die Kosten bei alleiniger Durchführung von Abschiebeflügen, also ohne Zusammenarbeit mit anderen Staaten, steigen würden.
Für die Fortführung von Rückführungsflügen setzte sich gegenüber Ö1 der FPÖ-Abgeordnete Hannes Amesbauer ein. Für den SPÖ-Parlamentarier Reinhold Einwallner sowie Neos-Mandatar Helmut Brandstätter hingegen sind Abschiebungen derzeit "unmöglich".
Kommentare