Denn in den vergangenen drei Tagen sorgte die islamistische Miliz im ganzen Land für Hiobsbotschaften: Fünf Provinzhauptstädte erobert, in der Hauptstadt Kabul den Regierungssprecher erschossen – die Taliban zeigten, dass sie überall im Land zuschlagen können. Die neuesten Entwicklungen ließen die US-Botschaft in Kabul eine neuerliche Warnung an US-Bürger in Afghanistan aussprechen: Jeder solle das Land „sofort verlassen“. Seit dem Beginn des Abzugs der US- und NATO-Truppen Anfang Mai sind die Taliban fast überall im Land auf dem Vormarsch.
Erst konnten sie vor allem im ländlichen Raum massive Gebietsgewinne verzeichnen. Danach eroberten sie mehrere Grenzübergänge. Nun liegt ihr Fokus auf den 34 Provinzhauptstädten: Am Samstag eroberten die Islamisten die Stadt Sheberghan im Norden des Landes. Zuvor war die westliche Provinzhauptstadt Zaranj an der iranischen Grenze an sie gefallen. Heftige Taliban-Angriffe mussten Sicherheitskräfte zudem in den Städten Faisabad im Norden sowie Laschkargah im Süden abwehren. In Kandahar verübten die Taliban einen Bombenanschlag, der mindestens 15 Menschen das Leben kostete.
Provinzräte aus Faisabad sagten, die Islamisten hätten die Stadt aus fünf verschiedenen Richtungen angegriffen, seien aber auf starken Widerstand der Polizei und Armee gestoßen. Die Taliban mit ihren bis zu 85.000 Kämpfern gleichen ihre zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber der afghanischen Armee (180.000 einsatzbereite Soldaten) durch eine stärkere Kampfmoral aus – immer wieder desertieren ganze Einheiten der Armee oder ergeben sich. Den 200.000 Einwohnern Laschkargahs empfahl ein afghanischer General, aus der Stadt zu fliehen, sodass sich die Armee auf den Kampf konzentrieren könne.
Schon jetzt sind mehr als drei Millionen Afghanen innerhalb des Landes auf der Flucht. Laut UN-Angaben fliehen derzeit wegen der Kämpfe jede Woche an die 30.000 Menschen aus Afghanistan. Aus dem Iran, wo sich 750.000 afghanische Flüchtlinge aufhalten, passieren pro Tag 500 bis 2.000 die Grenze zur Türkei.
Für viele ist das Ziel Europa – im ersten Halbjahr 2021 haben 1.880 Afghanen einen Asylantrag in Österreich gestellt. Indes will die Bundesregierung an ihrem Abschiebe-Kurs festhalten: „Ja, es muss weiter nach Afghanistan abgeschoben werden. Es kann nicht sein, dass wenn jemand illegal zu uns kommt, er dann einfach bei uns bleibt. Das ist inakzeptabel“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz am Freitag. Widerspruch gibt es vom grünen Koalitionspartner, Widerstand ist aufgrund des Regierungsübereinkommens aber keiner zu erwarten. Seit 2017 wurden 674 Menschen nach Afghanistan abgeschoben, möglich macht das ein Übereinkommen zwischen der afghanischen Regierung und der EU.
Sollten die Taliban ihren Vormarsch fortsetzen wie bisher, ist es nur noch eine Frage der Zeit bis die jetzige Regierung fällt. Abschiebungen würden dadurch endgültig ein Ding der Unmöglichkeit.
Kommentare